Von Edda Lechner, Die-LINKE Schleswig-Holstein, aus dem Jahr 2009
„Die Europäische Kommission hatte im Juni dieses Jahres dem Europäischen Parlament eine „Ostsee-Strategie“ vorzulegen: Wird die Ostsee endlich ein „Meer des Friedens“?
Mit dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1990 wurde ein jahrzehntelang politisch „gespaltenes“ Meer wieder zu einem gemeinsamen und für alle „offenen“. So jedenfalls empfanden es die VertreterInnen der zehn alten und neuen Anrainerstaaten. Besonders begeistert äußerten sich die ehemaligen und immer noch so genannten Hansestädte entlang der Küste von Rostock bis Riga, allen voran deren ehemalige Zentrale Lübeck in Schleswig-Holstein. 2008 sagte deren Stadtpräsidentin Schopenhauer auf der Hafenkonferenz der neu gegründeten „Baltic Port Organisation“, die von 100 Vertretern von 50 Ostseehäfen besucht wurde, in einem Grußwort: nach dem Fall des Eisernen Vorhangs finde der Handel im Ostseeraum „zurück zu seinen Wurzeln“. In der Ostseeregion müsse das Gegeneinander ein Ende haben. Die Häfen müssten die Zukunft des Ostseeraumes „als eine Familie“ gestalten. Bei der Linkspartei wurde in Anklängen an alte DDR-Visionen sogar der Plan einer Konferenz zum zukünftigen „Meer des Friedens“ vorgeschlagen.
Was ist wahr und realistisch an diesen Vorstellungen? Welche Rolle hat das kleine Meer als Verkehrsweg für seine Anrainer und großen Hinterländer gespielt? War es ein friedliches Miteinander oder eher ein kriegerisches Gegeneinander? Kann es sein, dass das „Mare Balticum“ wie vorausgesagt in den nächsten Jahren seinen Schiffs- und Containerverkehr nahezu verdoppeln wird?
Für Schleswig-Holstein eine wichtige wirtschaftliche und politische Frage.
Die Ostsee geologisch: ganz jung und nicht sehr reich
Die Ostsee am nördlichen Rand Europas ist ein vergleichsweise kleines Meer mit einem schmalen Zugang zur Nordsee und zum Atlantischen Ozean. Diesen nördlichen Weg durch die engen Sunde und rund um die stürmische Meeresenge von Skagerrak und Kattegat zwischen den dänischen Inseln finden heute – dank der vielen Brücken und Kanäle – nur noch wenige Schiffe. Es ist das jüngste Meeresgebilde der Welt, das erst Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 entstand, als das abschmelzende Eis die genannten Verbindungen freigab und die Ostsee von einem Binnensee überhaupt erst zu einem offenen Meer wurde. Im Norden und Nord-Osten wird die Ostsee durch die nackten und zerklüfteten Gebirgszüge des Baltischen Schildes mit seinen bekannten Fjordbildungen bestimmt (Norwegen, Schweden, Finnland). Im Osten und Süden haben die Jahrhunderttausende andauernden Eiszeiten bewirkt, dass bis in die Norddeutsche Tiefebene und an den Rand des Urals die Endmoränen und das Schmelzwasser das Land mit zahlreichen Mooren und Sümpfen versehen hat (Mecklenburg, Pommern, Polen, die baltischen Staaten,), zu riesigen Seenplatten umformte (Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Finnland, oder sie zu – von Friedrich II. von Preußen so genannten – trockenen „Streusandbüchsen“ machte (Brandenburg, Pommern, Russland. Die Länder rund um die Ostsee haben zwar riesige Waldbestände, aber meist arme Böden mit wenig Humusbildung, Und noch heute bedeckt im Winter eine dicke Eisdecke bis zu fünf Monate lang den nördlichsten und östlichsten Teil dieses Meeres.
Als nach dem Abtauen der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren die ersten größeren Gruppen von Menschen hier jagten und fischten und ab 3.000 v. u. Z. als Ackerbauern ihre gerodeten Siedlungen errichteten, war dies nur möglich, weil inzwischen neben der fruchtbaren Gerste und dem fetten Weizen – aus dem Orient kommend – der genügsamere und klimatisch angepasste Roggen („Schwarzbrot“) gezüchtet worden war. Diese aus der Eiszeit entstandene Landschaft bietet allerdings auch einen besonderen Vorteil: Im Süden fließen der Ostsee aus den so geschaffenen Tiefebenen zahlreiche gut nutzbare Wasserwege zu. Von der Wolga bis zur Weser sind diese Flüsse ideale Transportwege für Warenaustausch und Handelskontakte in die Ostsee hinein. Ein wichtiger Vorteil in Zeiten, in der die Menschen erst in geringem Maße und schon gar nicht weite Strecken durch über Sümpfe und Moore Transportwege schaffen konnten.
Wir wollen einige bedeutende Epochen der „Geschichte der Ostsee“ genauer unter die Lupe zu nehmen, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Bruchlinien unter dem Gesichtspunkt politischer, kultureller religiöser, wirtschaftlicher und schließlich auch verkehrstechnischer Bedeutsamkeit zu ergründen. Bis in die heutige Zeit.
- Slawen, Wikinger und Araber: Handel zwischen Haitabu und Samarkand.
Seit etwa 3.000 v. u. Z. (vor unserer Zeitrechnung) lebten in der Jungsteinzeit verschiedene finnische, germanische, baltische und slawische Völker an den Rändern der Ostsee, deren Gewässer und Flüssen sie für Fischfang und deren kargen Boden sie für Landbau, Viehzucht und Waldwirtschaft nutzten.
Im 4. Jhd. rückten slawische Stämme in die von Germanen verlassenen Gebiete nach. Sie entwickelten im Laufe der folgenden Jahrhunderte eine eigene Ostsee-Ökonomie mit bedeutenden Handels- und Handwerkssiedlungen, von denen das bekannteste das germanische Haitabu bei Schleswig ist, dem aber die slawischen Niederlassungen (z.B. in Reric, Ralswiek und Wolin) in nichts nachstanden. Alle diese Stämme besaßen seit Jahrtausenden beste Kenntnisse im Schiffsbau, nutzten die zahlreichen Küsten, Seen und Flüsse mit ihren flachen, leichten, wendigen Booten, verstanden es, diese Fahrzeuge mit ihren Waren, wo die Wasserwege fehlten, ein Stück über Land zu ziehen (z.B. in Hollingstedt in Schleswig-Holstein als Verbindung zwischen Ost- und Nordsee) und hatten ausreichend Rohstoffe und handwerkliches Geschick, um weit in die Hinterländer hinein Handel zu treiben. Dabei kamen ihnen die oben erwähnten Flüsse (Oder, Weichsel, Memel) der nördlichen Tiefebenen mit Mündungen in die Ostsee sehr gelegen. Vom 8.- 11. Jhd. wurde der Norden Europas von Skiringssal in Norwegen über Birka in Schonen, Nowgorod am Ladogasee, die Wolga hinunter bis zum Schwarzen Meer ins byzantinische Konstantinopel und bis nach Samarkand im arabischen Abbasidenreich ein von Stämmen bestimmter, „staatenloser“ Handelsbereich. Zahlreiche Münzfunde, über ganz Nordeuropa verteilt, belegen die weltweiten Kontakte, in denen der arabische Silberdirham neben dem karolingischen Denar im Austausch die entscheidende Währung darstellte. Gehandelt wurden Salz, Honig, Felle, Wolle, Tuche, Seide, Keramik, Glas, Bernstein, Wachs, Schwerter und Sklaven.
- Raubzüge, Staatsgründungen und die Unterwerfung fremder VölkerBald spielten die skandinavischen Wikinger aus Dänemark und Norwegen mit ihren seetüchtigen Drachenbooten eine besonders bedeutende Rolle in der Ostsee, und ab dem 9. Jhd. auch in der Nordsee. Ihrer wirtschaftlichen Interessen, durch Raubzüge und Handel zu Reichtum und später auch zu Siedlungsland zu kommen, trieben sie nun auch nach England, Irland, Island und über den Atlantik nach Neufundland/Amerika. Als im 11. Jhd. die Silberströme aus Arabien versiegten und kriegerische Umstürze die Handelswege nach Osten versperrten, wurden sie mehr und mehr sesshaft, bis hinunter in die Normandie und nach Sizilien. Haitabu wurde im Jahr 1050 vom dänischen König Harald geplündert und nicht wieder aufgebaut, 1066 eroberte der Herzog der Normandie William the Conqueror England. Auch rund um die Ostsee begannen sich Staaten herauszubilden, die Territorien in Besitz nahmen, ein gut organisiertes Staatswesen aufbauten, zentrale Herrscherfunktionen ausübten und sich militärisch hart gegen ihre Nachbarn abgrenzten. Im Norden waren es Norwegen, Schweden und Dänemark, im Osten das Königreich Polen, Litauen und das Großfürstentum Moskau. Die baltischen und finno-ugrischen Völker schafften es nicht, stabile politische Einheiten zu bilden. Sie wurden in der Folge von den starken Staaten, den Dänen, Deutschen und Russen unterworfen.
Passend für diesen Vorgang fand nun auch das Christentum als eine zentrale Ideologie seine Anerkennung. Vom Erzbistum Bremen aus fand es über Hamburg, Ripen, Lund und Uppsala seinen Weg in die Ostsee-Länder, gefördert durch Missionare und Klöster, durch deutsche Kaiser und den römischen Papst. Wer sich als Herrscher eines festen Staatswesens etablieren wollte, ließ sich taufen, zum Heiligen erklären und richtete katholische Bistümer ein. Das Russische Reich wurde aufgrund seiner engen Kontakte zu Byzanz orthodox. Die für drei Jahrhunderte einheitlich agierende Handels-Region rund um die Ostsee verwandelte sich in eine Welt von militärisch und politisch organisierten Fürstentümern und Königreichen, die sich nun die vorhandenen Ressourcen samt der wichtigen Verkehrswege gegenseitig streitig machten, miteinander im Widerspruch gerieten und sich bekämpften.
- Deutscher Orden und Deutsche Hanse
Ab dem 12. Jhd. erreichte das deutsche Reich unter den Staufern durch eine verbesserte landwirtschaftliche Produktion, die militärische Überlegenheit ihrer Ritterheere und den aktiven Einsatz verschiedener landhungriger Herzöge Erfolge in der Landnahme im Osten. So erreichte z.B. der berühmte Herzog Heinrich der Löwe von Sachsen und Bayern mit Waffengewalt, durch kluge Vertragspolitik und konsequente Missionierung, dass die Slawen von Ostholstein (Ratzeburg) und Mecklenburg (Schwerin) seiner Herrschaft angegliedert wurden.
Als der Deutsche Ritterorden aus dem Heiligen Land zurückgekehrte, richtete er ebenfalls sein Augenmerk auf den „deutschen Osten“, um die dort noch nicht beherrschten baltischen Völker zu unterwerfen, sie ihrer Territorium zu berauben und deutsche Siedlungen ins Land zu bringen. Der Eroberung Brandenburgs, Pommerns und Ostpreußens folgte die von Pommerelen, Livland und Litauen mit militärischer Gewalt oder durch Kaufverträge Sie blieben fast 300 Jahre die Herren eines großen Reiches. In der Schlacht bei Tannenberg 1410 verlor der Deutsche Orden einen Großteil seiner Besitzungen an das erstarkte polnisch-litauische Königreich. Ein bunter Flickenteppich von Herrschaften durchzog jetzt das slawische und baltische Land: unabhängige Bischöfe und Fürsten, freie Städte, weitere Orden und der Widerstand der Bevölkerung ließen eine zentrale, einheitliche und dauerhafte Herrschaft dieses Gebietes nicht zu. Die Wirtschaft dieser Länder und die Verkehrswege entlang der Ostsee wurden nach dem Willen des Stärkeren reguliert.
Im Gegensatz zu diesen Staatenbildungs- und Imperiumsversuchen hatten die gleichzeitig entstandenen großen Handelsbünde und -Organisationen schon eher Erfolg, die Ostsee als ein gemeinsames Meer zusammen zu fassen. Die „Deutsche Hanse“, der zur Blütezeit fast 250 Städte angehörten, machte zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert das gesamte Ostseegebiet und einen Teil der Nordsee von Nowgorod über Gotland, Bergen und London bis Brügge zu ihrem wirtschaftlichen Einflussbereich. Indem sie ihre Schiffe, die Koggen, mit größerem Schiffsraum, zentralem Ruder, drei (Rah- und Lateiner-)Segeln und einem ausladenden Vorderdeck ausgestattet hatten, konnten sie schneller, sicherer und billiger als bisher die Ost- und Nordsee durchkreuzen.
Sie erwarben durch Verträge mit Königen, Städten und Regionen Privilegien über Stapelrechte, Hafennutzungen und Durchfahrtsrechte (vor allem im Sund vor Dänemark). Sie übten städtische Autonomie aus, einigten sich unter dem Vorsitz Lübecks auf ihren Hansetagen auf ein gemeinsames Vorgehen, zettelten Kriege an und scheuten sich nicht, zur Erreichung ihrer Ziele auch Handels- bzw. Hunger-Blockaden durchzuführen. Rheinländische und flandrische Händler ergänzten die bisherigen Waren durch neue luxuriöse Produkte die im Austausch mit kostbaren Waren aus den östlichen Ländern gehandelt wurden: Leinen, Holz, Pech, Teer, Gewürze, Wein und Metall. Aber vor allem war es der Ostsee-Hering als Grundnahrungsmittel im Mittelalter und das Salz aus Lüneburg als Konservierungsmittel, das die Ostseewirtschaft zu größter Blüte führte.
Nach dem Erstarken der englischen und niederländischen Staaten übernahmen diese mit ihren Schiffen in der Folge die Vorherrschaft in den beiden Meeren und bald darauf auch auf den neu entdeckten Weltmeeren. Die Hanse ging keineswegs wirtschaftlich zugrunde, aber sie verlor ihre Privilegien und Vorherrschaft. Bis heute wird in den nordischen Gefilden gerne an ihr nichtstaatliches Kaufmanns- und Wirtschaftsverhalten in der Ostsee erinnert und heraufbeschworen, „dass es modellhaft wieder wie zu Hansezeiten sein könnte“.
- Reformation und Imperiales Großmachtstreben
Ab 1500 setzte sich in fast allen Ostseeländern – außer in Russland und Polen – die Reformation durch. Sie fand sowohl in den freien Städten und beim „Deutschen Orden“, als auch in den Bistümern, Fürstentümern und Königreichen schnelle Zustimmung. Meistens wurde nach offiziellen Beschlüssen von Bürgern und Parlamenten das Luthertum als Konfession gewählt, aber manchmal war es auch der Calvinismus (Schweden) und in den folgenden Jahrhunderten auch der Pietismus und die Herrnhuter Brüderbewegung. In Russland spalteten sich ebenfalls Altgläubige von den bisherigen Orthodoxen. Die Ostsee wurde zu einem multireligiösen Bereich.
Der Übernahme der neuen Religion folgte zumeist die Enteignung der Klöster- und Kirchengüter zu eigenem Vorteil (der Deutsche Orden wurde z.B. weltliches Herzogtum). Auch ermöglichte die neue Glaubensrichtung, die schon im Hansebund zutage getretene städtischer Eigenständigkeit zu sichern und nationale Unabhängigkeit vom römischen Papsttum zu erlangen. Dass „jeder nach seinem eigenen Glauben selig werden konnte“, schuf eine von kirchlicher Bevormundung befreite individuelle Lebenshaltung und förderte mit dem freien beruflichen Fortkommen, auch die Entwicklung kapitalistischer Strukturen und einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung am Rande der Ostsee.
Die neuen Glaubensgemeinschaften, die sich vor allem im Norden Europas herausbildeten, konnten auf keinen Fall von der katholischen Kirche und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ akzeptiert werden. Es kam zwar zu gegenseitigen Duldungsverträgen, aber mehr noch zu wiederholten und lang andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen. Davon war der 30. jährige Krieg von 1618 bis 1648 der schrecklichste. An ihm beteiligten sich auch die nordischen Staaten Dänemark und Schweden unter den Königen Christian IV. und Gustav II. Adolf. Letzterer versuchte als der „Löwe aus Mitternacht“ das Luthertum gegen die katholische Front der Generäle Tilly und Wallenstein zu verteidigen.
Im Westfälischen Frieden von 1648 konnte Schweden erstmalig deutsche Gebiete an der Ostsee (in Mecklenburg) unter seine Herrschaft bekommen. Das inzwischen absolutistisch regierte Land wollte nun im Ostseeraum ein großes schwedisches Imperium errichten. Gut 100 Jahre lang bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts folgten Krieg auf Krieg zwischen Schweden und seinen wechselnden Gegnern Dänemark, Polen und Russland. Eine wirtschaftliche Verbesserung für Handel und Wandel brachten diese imperialen Zentralisierungsversuche kaum. Im Gegenteil: das eigene Land blutete finanziell so sehr aus, dass Schweden seine Großmachtpläne schließlich aufgeben musste. Die Wirtschaftskraft seines kleinen Landes war trotz des produktiven Reichtums an Erzen, Holz und Landwirtschaft nicht in der Lage, die nötigen Summen zur Beherrschung des Meeres aufzubringen.
Hingegen konnte der inzwischen auf Modernisierung bedachte russische Zar Peter der Große nicht nur seinen schwedischen Gegner 1709 in der Schlacht von der Poltava besiegen, sondern er und seine Nachfolger waren auch in der Lage, in den folgenden zwei Jahrhunderten, ja bis hinein ins 20., dieses große, an Arbeitskräften und Bodenschätzen reiche Russland ständig nach allen Himmelsrichtungen zu erweitern (bis ans Eismeer, ans Schwarze und ans Kaspische Meer). Auch wichtige Teile an der südlichen und östlichen Seite des „Mare Balticum“ mit Teilen Finnlands und des Baltikums wurden von Russland dauerhaft besetzt. Wenn in kriegerischen Zeiten für Russland der Weg durch die Ostsee versperrt war, konnte es mit Hilfe der schon von Peter dem Großen errichteten Kanalbauten ins nördliche Eismeer ausweichen. Das geschah im 1. und 2. Weltkrieg ebenso wie in der Zeit des „Kalten Krieges“.
- Neuordnung Europas und der Ostsee
Seit dem 19. Jhd. hatte Russland dauerhaft mit dem Widerstand der baltischen Provinzen zu rechnen, die für ihre nationale Unabhängigkeit kämpften. 1918 wurde Finnland, Estland, Lettland und Litauen diese vom Völkerbund zugestanden. Ab 1940 folgte noch einmal eine Phase des Anschlusses an die aus zahlreichen autonomen Staaten bestehende Sowjetunion. Als diese 1989/90 zusammenbrach, erreichten die baltischen Staaten – dieses Mal mit Unterstützung der UN und der Weltmacht USA – erneut ihre Unabhängigkeit. Kaum selbständig geworden, drängten sie mit Vehemenz in die Europäische Union, was allerdings auch von der eigenen Bevölkerung zum Teil sehr kritisch gesehen wurde.
Nach dem Ende des letzten Weltkrieges und dem Beginn des „Kalten Krieges“ war die Ostsee deutlich in zwei wirtschaftliche und politische Lager gespalten. Die skandinavischen Länder und Finnland versuchten zwar eine gewisse Neutralität zwischen den Blöcken zu wahren, und zwischen ihnen einen Ausgleich zu schaffen. Aber auch die bekannte schwedische Vermittlungsstrategie war letztlich erfolglos. Das Meer wurde zu einem Aufmarschgebiet für die NATO und betrieb vorrangig den Warenaustausch der kapitalistischen Länder. Der Ostseehandel des „Ostens“ wurde über das Eismeer umgeleitet. Moskau forderte seine westlichen Gegner auf, das Meer wieder zu einem „Meer des Friedens“ zu machen. Das war es im Laufe der Jahrhunderte nur selten gewesen.
Die Ostsee: Jetzt Binnenmeer der EU
Erstmals in ihrer Geschichte strebt nun die Europäische Union eine Strategie auf überregionaler Ebene an. Die Europäische Kommission ist vom Europäischen Parlament beauftragt, bis Juni 2009 den Entwurf für eine Ostseestrategie vorzulegen. Diese Strategie soll dazu dienen, die „dringenden Probleme der Ostseeregion auf den Gebieten Umwelt, Wirtschaft, Infrastruktur und Sicherheit zu erkennen und zu bewältigen“ (so der Mandatsbeschluss des Europäischen Parlamentes vom Herbst 2005).
Die EU-Kommission nennt die Entwicklung des Ostseeraumes seit dem Zusammenbruch der UdSSR eine „Erfolgsgeschichte der europäischen Integration“. Lag 1989 die Ostsee noch weitgehend außerhalb des Horizontes der EU – von damals sieben Anrainerstaaten waren lediglich Dänemark und West-Deutschland Mitglieder der EU – so hat sich zwei Jahrzehnte später die geopolitische Situation grundlegend verändert. Acht von neun Ostseeländern sind heute EU-Mitglieder. Neben Dänemark und Deutschland auch Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Die Ostsee ist so fast zu einem Binnenmehr der Europäischen Union geworden. Aber eben nur fast: Die Russische Föderation, einschließlich der Exklave Kaliningrad, steht außerhalb der EU. Eine Ostseestrategie, das wäre dann nicht nur eine neue Dimension von europäischer Innenpolitik, sondern auch ein Prüfstein für die Weiterentwicklung der Beziehungen der EU zu Russland.
Trotz und wegen der Globalisierung verlaufen durch die Ostsee einige von Europas wichtigsten Handelwegen. Das Gebiet um die Ostsee ist Lebensraum für 106 Millionen Menschen. Er beherbergt eine Schiffsindustrie von Weltrang, hoch-innovative Unternehmen, sowie einige der weltweit renommiertesten Universitäten. Landschaften und Kultur rund um die Ostsee ziehen in jedem Jahr Millionen von Besuchern an. Ungefähr 90 Prozent des Handels innerhalb der Region wird auf dem Seeweg abgewickelt: Jeden Tag fahren etwa 2000 Schiffe über die Ostsee. Auf der in der Einleitung zitierten Hafenkonferenz der „Baltic Port Organisation“ (BPO) in Lübeck im September 2008 waren die Teilnehmer ungebrochen euphorisch. Ziel sei ein enges Netzwerk der Häfen. „Wir brauchen gemeinsame Standards in den Häfen, z. B. bei den Ladesystemen.“ Und wo die Reise hingehen soll, erläuterte Dr. Maciej Matczak von der Maritimen Universität in Gdingen: Bis 2020 würde das Warenvolumen auf der Ostsee um 54 Prozent wachsen: „Auf Schiffen werden dann pro Jahr 471 Millionen Tonnen transportiert und nur 272 Millionen Tonnen auf Straße und Schiene. Die Ostseehäfen werden boomen!“
Dies zeigt einerseits die Wirtschaftskraft und die starke Verflechtung dieser Region.
Gleichzeitig ist damit der Startschuss zu gnadenloser Konkurrenz gegeben: Nynäshamn, südlich von Stockholm macht sich Hoffnungen auf den Bau eines der größten Schwedischen Umschlaghäfen. Mit dem 185 Millionen Euro-Projekt hofft die Stadt, ein ordentliches Stück vom Kuchen des ständig wachsenden Ostseehandels abzubekommen.
Neben den Warenströmen erhöhen sich sprunghaft die Zahlen des Passagiertransportes. Der absolute Marktführer auf der Ostsee ist die estnische Reederei Tallink. Vor einem Jahr übernahm die bis dahin von der Konkurrenz nicht so recht ernst genommene estnische Reederei den großen finnischen Rivalen Silja Line. Nun betreibt dieser Konzern 21 Schiffe auf sieben Roten zwischen Finnland, Schweden, Estland, Lettland und Deutschland. Zum Vergleich: Die erst kürzlich von ihrem dänischen und deutschen staatlichen Besitzern verkaufte Scandlines läuft mit nur 13 Schiffen gerade mal zwei Häfen im Baltikum und einige in Skandinavien an.
Es sind immer weniger, dafür immer größere Akteure auf der Ostsee unterwegs. Viele Reedereien bauen ihre Kapazitäten aus, die besser für den Waren- und Lkw-Transport geeignet sind. Besonderer Bedarf besteht an einem Ausbau der Tankerflotte in der Ostsee.
2001 weihte der russische Präsident Putin persönlich den Ölhafen Primorsk ein. Von hier, tief im finnischen Meerbusen nahe der Metropole St. Petersburg, will Russland einen Großteil seiner Ölexporte in Zukunft abwickeln. Im Einweihungsjahr wurden über den Ölhafen gerade mal zwölf Millionen Tonnen Rohöl verschifft; im Jahr 2006 waren es bereits 75 Millionen; Ende 2008 dann 120 Millionen Tonnen.
Aber: Die Wirtschaftskraft ist sehr ungleich in dieser Region verteilt. Zwar leben hier 23 Prozent der EU-Bevölkerung; sie erwirtschaften aber nur 16 Prozent des europäischen Bruttoinlandproduktes. Hinzu kommt das hohe Umweltrisiko. Ungewöhnlich lange – 25 bis 30 Jahre – dauert der Wasseraustausch der Ostsee. Alles was an Dreck durch die Anrainer und den Schiffsverkehr in die See gerät, bleibt dauerhaft im Meer liegen. „Es ist nicht mehr die Frage, ob ein Unglück geschieht, sondern wann“ heißt es im finnischen Umweltministerium.
Hier will nun die EU-Kommission wirtschaftliche und auch ökologische Zusammenarbeit und Entwicklung fördern. Ähnlich, wie sie das in anderen Randgebieten der EU wie Portugal, Irland und Griechenland gemacht hat. Rund 300 Millionen Euro will Brüssel zum Ausbau von Häfen bereitstellen. Um koordiniert an das Geld heranzukommen, haben sich Ostseehäfen in Deutschland, Litauen, Polen und Schweden zusammengeschlossen. Die Initiative des Europäischen Parlamentes zur Erarbeitung einer Ostseestrategie blieb jedoch zunächst ohne Widerhall. Obwohl sie das Europäische Parlament im November 2006 nochmals bekräftigt hat. Weder Finnland noch Deutschland wollten die Initiative während ihrer Ratspräsidentschaft 2006 und 2007 aufgreifen.
Erst die schwedische Regierung machte sich die Ostseestrategie mit Blick auf ihren Vorsitz im zweiten Halbjahr 2009 zu Eigen.“