„Die Sterntaler“ – mehr als nur ein Märchen

Es war einmal ein kleines Mädchen. Ihre Eltern waren tot, sie hatte kein Zuhause mehr und lebte mittellos und völlig allein auf der Straße. Da gab ihr ein mitfühlendes Herz einen Brotkanten. Kurz darauf begegnete sie einem ebenso armen Jungen, der über großen Hunger klagte. Da gab sie ihm das Brot. Dann begegnete sie einem weiteren armen Jungen, der fror am Kopf. Da schenkte sie ihm ihre Mütze. Danach kam ein armes Mädchen, es fror ebenfalls. Sie gab ihre Jacke. In dunkler Nacht traf sie noch ein Mädchen im Wald, klagend zitterte es am ganzen Leib vor Kälte. Da zog sie ihr letztes Kleidungsstück aus, ihr Hemdchen, und gab es ihr. Unmittelbar danach trug sie ein Kleid, es war aus reiner Seide und wunderschön. Viele Sterne fielen herab: „Sterntaler“. Das kleine Mädchen sammelte die Goldstücke auf und war unendlich reich.

„Die Sterntaler“ aus der Sammlung der Brüder Grimm gelten vielen als eine Lügengeschichte, die besonders oft Kindern in frommen christlichen Gemeinden erzählt wird: Gute Taten werden „von oben“ belohnt – und wenn nicht im Diesseits, dann spätestens im Himmel. Doch die irdische Realität ist eine andere: Geld wandert gewöhnlich dorthin, wo alle Dagoberts dieser Welt leben. Marx zählte solche religiös aufgeladenen Geschichten zum „Opium des Volks“: sie seien ein Ausdruck des Elends und zugleich des Kampfs gegen das Elend.

Märchen sind Kultur, Erbe und Überlieferung aus der Erinnerung und Weisheit der Völker. Sie sind ein Spiegel unserer Seele. Es lohnt sich, „Die Sterntaler“ historisch-materialistisch zu analysieren.

Die Brüder Grimm nahmen es 1812 in ihre Erstlingssammlung unter dem Titel „Das arme Mädchen“ auf. Sieben Jahre später erschien die zweite Ausgabe mit der Überschrift „Die Sternthaler“. Viele Völker erzählen ähnliche Märchen. Eine analoge Version kannte in Frankreich jedes Kind. Vermutlich hatte Jakob Grimm die französische Fassung 1804 während seines Aufenthalts in Paris kennengelernt. Damals war die Erinnerung an die schreckenserfüllten Revolutionsjahre noch lebendig: Die Großbourgeoisie, gerade an die Macht gekommen, hatte mit Lebensmitteln spekuliert: Sie  hortete Getreide und trieb, den Hungertod der Ärmsten in Kauf nehmend, den Brotpreis in die Höhe. Kinder, deren Eltern die Barrikadenkämpfe nicht überlebt hatten, verhungerten auf offener Straße, während die Reichen ihren Reichtum schamlos zur Schau stellten und auf unzähligen Gelagen verprassten. Bis sich das Volk zu wehren begann: 1795 entstand Babeufs „Manifest der Plebejer“, eine Gründungsurkunde der modernen kommunistischen Bewegung. Während Gracchus Babeuf, zum Tode verurteilt, auf dem Schafott starb, nahm sich der Klerus des Leidens an und füllte die Herzen der Ärmsten mit der Hoffnung auf Gottes Gnade. Vor diesem Hintergrund lasst sich „Die Sternthaler“ als ein tiefreligiöses Lügenmärchen enttarnen.

Doch was hat das mit meinem heutigen Vortrag zu tun? Vor zehn Jahren bereitete ich mich auf eine Dissertation über ein Buch des DDR-Philosophen Wolfgang Harich vor. Es erschien 1975 unter dem Titel: „Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘“. 1795 und 1975: dieselben Ziffern, ähnliches Anliegen: Harich bezog sich in Ostberlin auf die drei Jahre zuvor vom Club of Rome veröffentlichte MIT-Studie über „Die Grenzen des Wachstums“. Die intendierte allgemeine Verhaltensänderung war ausgeblieben. Harich wusste: Kapitalistische Systeme müssen wegen ihres immanenten Wachstumszwangs an den Wachstumsgrenzen der Natur scheitern. Das galt auch für den damaligen Realsozialismus, der im Wachstumswettbewerb mit dem Westen stand. SED-Ideologen wollten das nicht wahrhaben: Sie behaupteten, Umweltprobleme würden nur vom Kapitalismus verursacht. Harich kritisierte dies und propagierte Babeufs „Manifest der Plebejer“: Nur ein Kommunismus mit totaler Rationierung aller Güter und einer Ausrichtung auf eine allen gleichermaßen zustehende Grundversorgung sei zukunftsfähig. Marx nannte jedoch die babouvistische Gemeinschaftsversion einen „gleichmacherischen rohen Kommunismus“, den er entwicklungsgeschichtlich vor dem kapitalistischen Privateigentum verortete. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, inwieweit der „Realsozialismus“ babouvistische Züge in sich trug („Stalinismus“!), welchen Anteil dies am Konkurs des „Realsozialismus“ hatte und welche Konsequenzen sich daraus  für einen nachhaltigen Sozialismus ergeben – als einer Gesellschaftsordnung (keiner Gemeinschaftsordnung), in der die universelle Entwicklung aller Individuen integraler Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung ist.

Nebenbei: Ich hatte vor meiner Übersiedlung nach Plön einen guten Kontakt zum einstigen stellvertretenden DDR-Kulturminister Dr. Klaus Höpcke, der als „Bücherminister“ die Literatur förderte und zu dessen Aufgaben es zählte, über deren „ideologische Reinheit“ zu wachen. Harichs Buch bewunderte er, aber es durfte in der DDR nicht erscheinen. So erblickte es im rororo-Verlag die Welt und wurde von Rudolf Augstein, Harichs Freund aus den 1950ern, gefördert.

1976 erschien eine weitere Reaktion auf die MIT-Studie, deren Bezug zum Sterntaler-Märchen leicht herstellbar ist: Erich Fromms Weltbestseller „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“. In psychoanalytischer Sicht spiegelt sich ein eminenter innerer Reichtum in der äußeren Armut des kleinen Mädchens: Deren Freigiebigkeit trotz eigener Bedürftigkeit entsprang einem „Gottvertrauen“, das ein Vertrauen in die eigene Kraft war – eine Dominanz des produktiven Seins über das Haben. Fromm bezog sich auf Marxens „Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844″ und das Entfremdungsphänomen: „Je weniger du bist, … umso mehr speicherst du von deinem entfremdeten Leben… alles das, was du nicht kannst, das kann dein Geld: es kann essen, trinken, auf den Ball, ins Theater gehen … es kann das alles kaufen“ (MEW Bd. 40, S. 549). „Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du … Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein“ (daselbst, S. 567).

Daher wird noch ein vierter Teil meines Vortrags erforderlich sein, um die Perspektive aufzuzeigen: im gesellschaftlichen Handeln der Menschen, in emanzipierten Beziehungen in einer nicht mehr von Entfremdung durchdrungenen Welt.