Alle sechs großen Umweltverbände fordern: Ökologie und Soziales gehören zusammen

Nach der Wahl ist vor der Wahl? Die Bundestagswahl 2017 ist vorbei und es wird Zeit, den Blick weit über die neue Legislaturperiode hinaus in die Zukunft zu richten. Fachleute der sechs großen deutschen Umweltverbände BUND, NABU, Greenpeace, WWF, Deutscher Naturschutzring und NaturFreunde wurden schon zuvor in einer Interviewreihe des „Denkhaus(es) Bremen“ über ihre Zukunftsideen befragt. Einig waren sie sich darin, dass eine auf permanentes Wachstum programmierte Wirtschaft auf Dauer unsern Planeten erschöpft. Daraus folgern sie, „wir alle“ müssten auf „ausufernden Konsum“ verzichten und den Gürtel enger schnallen. Weil dies den einkommensschwachen Schichten nur schwer vermittelbar ist, sei der ökologische Wandel ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu haben.

Leider wird nicht tiefer gebohrt: Ist eine natur- und klimaverträgliche Gesellschaft vorstellbar, die ohne Konsumverzicht, d.h. Schrumpfen, bei einer guten Lebensqualität für alle Bürgerinnen und Bürger unsres Erdballs auskommt? Am 14. September 2017 jährte sich die Veröffentlichung eines Weltbestsellers zum 150. Mal, der eine plausible Antwort auf diese aktuelle Frage gibt: „Das Kapital“, Band 1, von Karl Marx. Hier wurde das Grundprinzip der kapitalistischen Produktionsweise erklärt: Kapital kann sich nur reproduzieren, wenn auf Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln und ruinösen „Wettbewerbs“ die Produktionsprozesse durch Kopplung von Boden bzw. „Natur“, Arbeitskraft und Arbeitsmittel (Maschine) vielfach wiederholt werden, indem der jeweils erwirtschaftete Überschuss („Mehrwert“) auf steigender Stufenleiter reinvestiert wird (Geld->Ware->Geld‘->Ware‘->Geld“->Ware“ etc.). Die kapitalistische Produktionsweise, darin sind sich auch die Umweltverbände einig, muss auf Dauer die Belastbarkeitsgrenzen unsres Planeten überschreiten. Unbeachtet bleibt (vermutlich vor dem Hintergrund des Scheiterns des europäischen Frühkommunismus gegen Ende der 1980er Jahre), dass sich dieser verhängnisvolle Prozess – Marx zufolge – durch Übergang zum Gemeineigentum an ebendiesen Produktionsmitteln, d.h. durch den Übergang zum Kommunismus stoppen lässt. Ohne diese Perspektive erscheint die allgemeine Verzichtsideologie in sich logisch und berechtigt.  Allerdings wird es noch eine unbestimmbare Zeit dauern, bis die Gesellschaft die Möglichkeit einer kommunistischen Perspektive auch nur zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. Statt untätig bis dahin zu warten, gilt es, über Zwischenziele und Zwischenetappen nachzudenken, z.B. über die Weiterentwicklung genossenschaftlicher Eigentumsstrukturen auf zwar nicht mehr marktradikaler (neoliberaler), aber immer noch kapitalistischer Grundlage.

Hier der einführende Beitrag aus der trotz dieser beschränkten Sicht hoch informativen Interviewreihe des „denkhausbremen“:

„Wer hätte das gedacht? Dass die großen deutschen Umweltverbände eine Abkehr vom Wachstumsdenken fordern, ist vielleicht nicht wirklich überraschend. Dass sie gleichzeitig unisono auch für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten, lässt allerdings aufhorchen. Genau das ist jedoch die durchaus überraschende Quintessenz der Interviewreihe, die denkhausbremen mit aktiven und ehemaligen Führungskräften von sechs Umweltverbänden geführt hat. Darin äußern sich die Umweltfachleute auch über ihr ambivalentes Verhältnis zur Industrie, blicken zurück auf Erfolge und Misserfolge der bundesdeutschen Umweltbewegung und schildern ihre Ideen für die Zukunft.

Sackgasse Wachstum

Bei dieser Diagnose sind sich die Befragten einig: Das Märchen vom Wirtschaftswachstum ist auserzählt. Eine auf permanentes Wachstum programmierte Wirtschaft erschöpft auf Dauer unseren Planeten. Zu dumm nur, dass die Menschheit genau in dieser Richtung unterwegs ist. Und mittendrin befinden sich die Umweltverbände mitsamt Spender/innen und Unterstützer/innen. Folgerichtig fordern die befragten Fachleute von BUND, Greenpeace, NABU, WWF und Co. einen mehr oder weniger radikalen Kurswechsel. Aber wie soll das gehen? Die aktuelle Postwachstums- Diskussion kann darauf möglicherweise eine Antwort geben. Aus diesem Grund beobachten etablierte Verbände wie der WWF die wachstumskritische Debatte sehr genau, so dessen Vorstandsmitglied Christoph Heinrich. Er sieht zum Beispiel viele inhaltliche Übereinstimmungen mit den „Ende-Gelände“-Protesten. Diese verknüpfen Forderungen nach einem Braunkohle-Sofortausstieg mit wachstumskritischen Positionen. Andere Verbände schlagen in die gleiche Kerbe. NABU-Präsident Olaf Tschimpke: “Bei den wichtigsten Themen des Umweltschutzes, beim Verlust der biologischen Vielfalt sowie beim Klimawandel, sind tatsächlich schon heute die Grenzen überschritten.” Die BUND-Ehrenvorsitzende Angelika Zahrnt warnt allerdings vor einem Schulterschluss mit rechtspopulistischen Wachstumskritikern.

Ökologie und Soziales gehören zusammen

In den Führungsetagen der Umweltverbände ist man sich einig, dass ohne soziale Gerechtigkeit ein ökologischer Wandel der Gesellschaft nicht zu haben ist. “Wenn die Menschen den Eindruck haben, das läuft nicht gerecht ab, dann haben wir mit unserer Transformationsstrategie keine Chance”, ist sich der NaturFreunde-Vorsitzende Michael Müller sicher. Im Gegensatz dazu stehen die Umweltverbände zunächst im Verdacht, in erster Linie die Interessen ihrer bürgerlichen Zielgruppen abzubilden. Soziales habe keinen Platz im Portfolio der Ökoverbände. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Naturschutzrings (DNR), Helmut Röscheisen, räumt ein: Solange sich die Umweltbewegung vorwiegend aus Angehörigen der Mittelschicht zusammensetze, falle es schwerer, den Blick für soziale Ungerechtigkeit zu schärfen. Er nennt ein Beispiel: An einer stark befahrenen Durchfahrtsstraße im Raum Köln mit einkommensschwachen Anwohnern sei 30 Jahre nichts gegen Lärm und Abgase unternommen worden. „Wenn einflussreiche Leute an dieser Straße wohnen würden, dann hätte es vielleicht längst Änderungen gegeben.“ Mit diesem gesellschaftlichen Kontext müssten sich die Umweltverbände deshalb auseinandersetzen, ergänzt Michael Müller. Er hofft, dass ein „Bündnis von sozialem und ökologischem Denken“ gegen die gesellschaftliche Spaltung entsteht.

Industrie als Feindbild oder Partner

Die Interviewten sprechen auch über ihr ambivalentes Verhältnis zur Industrie.  Weder gibt es dabei Lob über den grünen Klee noch abgrundtiefe Kritik. NABU- Präsident Tschimpke bringt es auf folgenden Nenner: „So viel Kooperation wie möglich, so viel Konfrontation wie nötig.“ Nach seiner Wahrnehmung haben sich BUND und Greenpeace schon immer klarer von der Wirtschaft abgegrenzt, während der WWF stets einen recht intensiven Kontakt zur Wirtschaft gepflegt habe. „In diesem Spannungsbogen bewegt sich der NABU.“ Wesentlich kritischer bewertet Wolfgang Lohbeck von Greenpeace den Dialog mit der Wirtschaft. Möglicherweise falle es nach persönlichen Begegnungen schwerer, mit Konzernen öffentlich hart ins Gericht zu gehen. Vor allem aber bestehe die Gefahr, sich zu sehr um Detailverbesserungen zu bemühen und das große Ganze aus den Augen zu verlieren.

Aus der eigenen Geschichte lernen

Womöglich lohnt sich für die Umweltverbände ein Blick ins eigene Archiv, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Die aktuelle Wachstumskritik ist schließlich nicht einfach vom Himmel gefallen – bereits in den 1970er Jahren veröffentlichte der Club of Rome seine Studie “Grenzen des Wachstums”. In den politisch aufgeladenen Zeiten von damals sind auch Verbände wie Greenpeace und BUND ins Leben gerufen worden. In der Folge kam es laut WWF-Vorstand Heinrich zu einer Spaltung der Naturschutzszene: Auf der einen Seite eher linke Akademiker beim BUND, auf der anderen Seite der NABU-Vorgänger „Deutscher Bund für Vogelschutz“,  in dem sich nach seiner Erinnerung vor allem konservative Handwerksmeister, Angestellte und Arbeiter trafen. Auf der damaligen Agenda der Ökoverbände standen auch grundsätzliche Fragen zum Wirtschaftssystem. Für Greenpeace-Experte Lohbeck etwa war der Kampf gegen dreckige Flüsse auch „eine Art von Kapitalismuskritik“.

Umweltverbände gleichen sich an

Eheleuten wird bekanntlich nachgesagt, dass Sie sich mit der Zeit immer ähnlicher werden. Der gemeinsame Mikrokosmos erzeugt ähnliche Lebensformen. Vielleicht ist so zu erklären, warum sich die Umweltverbände bei ihrem Rendezvous mit der Realität immer weiter angleichen. Das Wechselspiel aus Kooperation und Konfrontation mit Wirtschaft, Presse und Politik zwingt die Verbände offensichtlich in die gleiche Umlaufbahn. Greenpeace, das nach Wolfgang Lohbecks Worten mal als „Teil einer systemkritischen Bewegung” gestartet wurde, sitzt heute auf internationalen Umweltkonferenzen einträchtig neben dem WWF, der seine Unterstützer anfangs aus Hochadel und High Society rekrutierte. 

Blick in die Zukunft

Und wie soll es jetzt weitergehen? Die Interviewten wagen einen Blick in die Glaskugel und erläutern ihre Ideen für die Zukunft. Die BUND-Ehrenvorsitzende Angelika Zahrnt hat einen pragmatischen Vorschlag: „Die Stärke der Umweltverbände – zumindest von NABU und BUND – liegt ganz klar auf der lokalen Ebene“. Hier sollten sie für mehr Repair-Cafés, Car Sharing und öffentliche Bücherschränke streiten – und zugleich auf politischer Ebene bessere Rahmenbedingungen für ressourcensparendes Verhalten fordern. Wenn es nach Ex-Staatssekretär Müller geht, sollten sich die Verbände noch stärker politisch einmischen: Er ruft sie dazu auf, „eine Art APO, also außerparteiliche Opposition“ zu bilden und die politischen Parteien beim Thema Wachstum stärker unter Druck zu setzen. Greenpeace-Experte Lohbeck rechnet damit, dass es den Umweltverbänden so ergeht wie der SPD: „Immer wenn die Sozialdemokratie sich in der politischen Mitte eingerichtet hatte, etablierten sich linke Abspaltungen.” In den 1920er Jahren sei die USPD entstanden, zuletzt dann die Partei Die Linke. Bei den Umweltverbänden könnten ebenfalls neue Ausgründungen entstehen: „Organisationen mit Pioniergeist, die Probleme wieder kontroverser auf den Punkt bringen“. Möglicherweise befinden wir uns bereits in der Zukunft – und die Postwachstumsbewegung ist so etwas wie die Reinkarnation der Umweltverbände.“

Siehe: http://denkhausbremen.de/wp-content/uploads/2017/08/denkhausbremen-Wer-die-Vergangenheit-kennt-kann-die-Zukunft-besser-gestalten..pdf