Der CO2-Ausstoß des Verkehrssektors ist seit 1990 nicht gesunken, sondern sogar gestiegen. Daher muss die Verkehrswende mit an vorderster Stelle stehen, wenn Plön bis 2035 klimaneutral werden soll. Seit vielen Jahren fordern Verkehrsexpert*innen die Abkehr vom Auto und den Umstieg auf Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel. Dass die Lebensqualität dabei steigt, zeigt die Coronakrise: Während des Lockdowns waren die Straßen verkehrsberuhigt wie nie, die Stickoxid- und Feinstaubbelastungen gingen signifikant zurück. Besonders eindrucksvoll erschienen uns die TV-Bilder aus Beijing: Statt des täglichen Smogs war die Sicht plötzlich wieder klar und wir fragten uns: Können wir diese neue Lebensqualität in die Zeit nach dem Virus hinüberretten?
In Hasselt, der Hauptstadt der belgischen Provinz Limburg, 74.000 Einwohner, 60 km Luftlinie von Aachen entfernt, wollte schon vor 25 Jahren eine Mehrheit der Bürger*innen die Blechlawine auf ein erträgliches Maß reduzieren. Die Region war bis in die 1970er Jahre vom Steinkohlebergbau geprägt. Dessen Niedergang konnte jahrzehntelang nicht kompensiert werden. Hasselt wurde zugleich durch ein immer stärkeres Verkehrsaufkommen belastet. Der Bau eines dritten Verkehrsrings schien unumgänglich, doch Hasselt stand um 1995 vor der Pleite und konnte den erforderlichen zweistelligen Millionenbetrag nicht aufbringen. Der konservative Bürgermeister ersann alle denkbaren Sparmaßnahmen, um den Bau trotz alledem zu finanzieren. Dabei wussten alle: Neue Straßen erzeugen zusätzlichen Verkehr. Auch der Restaurantbesitzer Steve Stevaert ärgerte sich über den Lärm und Gestank der Blechkarossen, die ihm das Geschäft verdarben.
Dabei kam er auf eine ungewöhnliche und dennoch naheliegende Idee: Der ÖPNV solle so attraktiv gemacht werden, dass viele Bürger*innen freiwillig auf ihr Kfz verzichteten. Er bewarb sich für das Bürgermeisteramt und wurde gewählt. Trotz ihrer Armut installierte die Stadt einen Nulltarif für ihre zwei Linien, die mit acht Bussen bestückt waren und täglich rund tausend Fahrgäste beförderten. Die Busbetreibergesellschaft „De Lijn“ war zu hundert Prozent im Staatsbesitz und hatte eine Monopolstellung inne. Die Stadt erstattete „De Lijn“ exakt jenen Teil der Einnahmen, die sie bisher von den Fahrgästen direkt erzielte. Er belastete den Kommunalhaushalt mit rund einem Prozent. Das war trotz der knappen Kassen finanzierbar. . .
Was jetzt geschah, war ein gigantischer Erfolg: Die Zahl der Passagiere stieg von 350.000 im Jahr 1996 auf 4,5 Millionen (2008), aus zwei Buslinien wurden fünfzig mit einer z.T. fünfminütigen Taktfolge. Die Innenstadt boomte: Viele Bürger*innen, die bis dahin ihren Feierabend zuhause vor der Glotze verbrachten, bevölkerten jetzt die City mit ihren neuen Kneipen und Kulturstätten. Hasselt wurde zu einem der führenden Wirtschaftszentren und zur viertwichtigsten Einkaufsstadt Belgiens. Neben Leuven ist sie die attraktivste Stadt Flanderns. Auch ihr Sozialprodukt entwickelte sich dynamisch. Der Anteil der Verkehrsausgaben am Gesamthaushalt blieb mit 1,26 % nahezu konstant. . .
Doch es gibt auch eine „dunkle“ Seite: Die Bevölkerung nahm das Angebot an ticketfreien Fahrten gerne an, doch kaum jemand war bereit, sich vom eigenen Automobil zu trennen. Die gigantische Menge zugemüllter (bzw. geparkter) Blechkisten beeinträchtigte weiterhin das Stadtbild. Um das zu ändern, griff die Verwaltung zu Zwangsmaßnahmen: Die Innenstadt wurde autofrei, die Parkgebühren im restlichen Stadtgebiet stark angehoben: Die erste halbe Stunde kostete zwar nur einen Euro, doch jede Überschreitung verschlang zehn Euro und galt für die nächsten sechs Stunden. Alle Bürger*innen wurden über die wahren Kosten der eigenen PKW-Nutzung aufgeklärt: Kraft-fahr-zeuge sind in Wirklichkeit Stehzeuge – sie stehen 23 Stunden am Tag ungenutzt herum und verschlingen wertvollen gemeinschaftlich nutzbaren öffentlichen Raum.
Jeder gefahrene Kilometer belastet nicht nur den Stadtsäckel, sondern kostet auch die Autobesitzer 30-50 Cent. Alleine der Wertverlust ist mit monatlich 200-300 € zu veranschlagen. Da macht es Sinn, das Auto abzuschaffen, aufs Fahrrad umzusteigen, bei Bedarf einen Leihwagen zu nehmen, sich das eine oder andere Taxi zu genehmigen und/oder Carsharing-Angebote zu nutzen.
Der Nulltarif im ÖPNV scheiterte wie in den vergleichbaren brandenburgischen Städten Templin und Lübben am eigenen Erfolg. Die Fahrgastbeteiligung am Gesamtpreis war 1996 in Hasselt mit 9 % extrem gering. (In Deutschland ist sie deutlich höher.) Die schwindende PKW-Zahl minderte die Einnahmen aus Parkgebühren und Kfz-Steuer. Gemessen an den realen Kosten überstieg das Projekt zunehmend die Subventionsspielräume der Stadt. Hinzu kam, dass eine autofreundliche Mitte-Rechts-Regierung in Flandern ans Ruder gelangte und die Subventionen für „De Lijn“ sanken. Der Nulltarif wurde 2012 gegen den Willen der amtierenden Bürgermeisterin Hilde Claes gecancelt (mit Ausnahme von Senioren und Jugendlichen), doch der Tarif blieb mit fünfzig Cent pro Fahrt im Vergleich zu anderen Städten außerordentlich günstig. . .
Plöner ÖPNV-Flat für alle, finanziert durch das Bürgerticket .
Die ÖPNV-Flat ist mit einer Telefon-Flatrate vergleichbar. Man zahlt einen Jahres- oder Monatsbeitrag und kann den ÖPNV zum Nulltarif nutzen. Es gibt mehrere Varianten: Die Flatrate kann aus einem Fixpreis bestehen oder sozial gestaffelt sein. Sie kann nur für diejenigen gelten, die sich individuell für die Teilnahme entschieden haben, oder aber sie beruht auf einer Zwangsabgabe, gleichgültig, ob sie den ÖPNV nutzen oder nicht – so, wie (fast) alle Bürger*in-nen in ihre Krankenversicherung einzahlen. Wir plädieren für die allgemein verbindliche Verkehrsabgabe und die ÖPNV-Flat für alle als Gegenleistung.
Es kommt auf den politischen Willen und Mut an, eine ÖPNV-Flat einzuführen. Der Verkehrswissenschaftler Prof. Heiner Monheim war in den 1990er Jahren als Referatsleiter im nordrhein-westfälischen Verkehrsministerium maßgeblich an der Einführung des ÖPNV-Semestertickets für Studierende beteiligt. Eine solche „Zwangsabgabe“ lässt sich nur durchsetzen, wenn die Beteiligten im Kollektiv zustimmen. Das „Bürgerticket für Studierende“ bedarf von Beginn an und in jedem Semester neu des Votums des Studierendenparlaments. Heute werden die Semestertickets an fast allen deutschen Hochschulen angeboten – als Teilbetrag, den die Studierenden mit ihrer Immatrikulation bezahlen müssen. Die Preise unterscheiden sich regional, doch stets sind sie erheblich günstiger als normale Monats- oder Jahreskarten.
„Es gab einen massiven Run auf den öffentlichen Verkehr, wobei es nicht so ist, dass die Studenten alle vom Fahrrad herunter gestiegen wären – also der Umweltverbund als Ganzes hat massiv gewonnen und es hat eine ganz massive Entmotorisierung gegeben. Also Studenten, die ein Auto hatten, haben sich gefragt: Was brauche ich noch ein Auto, wenn ich noch ein Semesterticket habe, es gibt eine minimale Autobesitzquote bei den Studenten jetzt, die vorher ziemlich hoch war“ (Prof. Monheim 2015 im Deutschlandfunk).
Tübingens OB Boris Palmer rechnete in derselben Reportage des Deutschlandfunks vor: Eine ÖPNV-Flat für alle in der Universitätsstadt am Neckar mit 85.000 Einwohnern könnte durch eine allgemeinverbindliche Verkehrsabgabe von 150 Euro pro Kopf und Jahr finanziert werden, sozial gestaffelt für Kinder, Rentner und Geringverdiener. Im Vergleich zu 470 € für die Abo-Jahreskarte wäre das Bürgerticket „sehr viel günstiger – falls man denn Bus fährt. Die Betriebskosten für die Tübinger Busse betragen rund 15 Millionen Euro im Jahr. Acht Millionen Euro davon werden aus Fahrkarteneinnahmen erzielt“. Die notwendige Zustimmung des Bundeslands Baden-Württemberg steht noch aus.
Das ist sicherlich eine Anregung für Plöns Bürger*innen und Entscheidungsträger*innen. Wir bleiben diesbezüglich weiter am Ball.
(Oktober 2020. Hansjürgen Schulze. Der Beitrag entstammt der Zeitschrift „Plön 2035“ Nr. 2-2020)