Sahra Wagenknecht: Ehrliche Umweltpolitik statt Preiserhöhungen und Lifestyle-Debatten

Wenn unser Planet im Müll erstickt, immer mehr Arten unwiederbringlich aussterben und das Klima heißer und trockener wird, kann das niemanden gleichgültig lassen. Gerade Menschen, die in ländlichen Räumen leben, sind meist naturverbunden und lieben die Landschaft und Pflanzenwelt, in der sie sich zu Hause fühlen. Dennoch löst die aktuelle Klimadebatte bei vielen von ihnen eher Aggressionen aus. Nicht, weil ihnen die Zukunft unserer Erde egal wäre. Sondern weil sie ein feines Gespür dafür haben, wie unehrlich es ist, die dringend notwendige Diskussion über Wege zur Rettung von Klima und Umwelt als Debatte über Fragen des Lebensstils und der Konsumgewohnheiten aufzuziehen.

Den Ärmeren das Leben verteuern
In der Tat ist die aktuelle Klimadiskussion, in der Fragen des Verzichts und der gezielten Verteuerung im Mittelpunkt stehen, vor allem ein Elitendiskurs. Wer immer im Überfluss gelebt hat, mag persönliche Befriedigung dabei empfinden, bewusst auf bestimmte Dinge zu verzichten. Und wer häufige Rad fährt und weniger Fleisch isst, tut zumindest der eigenen Gesundheit einen Gefallen. Aber wer den Menschen einreden will, die Veränderung ihres Lebensstils sei der Schlüssel zur Rettung unseres Planeten, macht sich und anderen etwas vor. Versucht die Politik dann noch, der gewünschten neuen Lebensweise mit CO2-Steuern, Fleischverteuerung und Aufschlägen auf Billigflugtickets auf die Sprünge zu helfen, erreicht sie vor allem eins: dass die weniger Begünstigten mit zunehmender Aversion reagieren, sobald auch nur das Wort Klima fällt. Denn es entgeht ihnen nicht, dass die hochtrabende Welterrettungs-Rhetorik am Ende nur darauf hinausläuft, dass ihre Heizung, ihr Strom, ihr Sprit, ihr Essen und ihre Urlaube noch teurer werden sollen.

Das Maßnahmenbündel, das die Bundesregierung Ende 2019 in Reaktion auf die »Fridays for Future«-Bewegung beschlossen hat, macht der unteren Mitte und den Ärmeren das Leben schwerer, ohne uns in Richtung Klimaverträglichkeit auch nur einen Schritt voranzubringen. Wer im ländlichen Raum wohnt, wo seit Langem kein Zug und kein Bus mehr verkehrt, der wird weiter mit seinem Diesel zur Arbeit und zum Supermarkt fahren, da das schicke E-Auto für die meisten trotz Staatssubventionen unerschwinglich bleibt. Und wer eine Ölheizung im mäßig isolierten Haus hat, zu der es nur teurere Alternativen gibt, wird weiter heizen wie bisher, er bezahlt nur eben mehr.

Schiffsdiesel statt Kuhdung
Auch dass die Veganer-Bewegung unseren Planeten erlösen wird, scheint unwahrscheinlich. Wenn die Methanausscheidungen heimischer Kühe durch die schwarzen Rauchschwaden zusätzlicher schwerölgetriebener Containerschiffe ersetzt werden, die, gefüllt mit Soja, Reisprotein, Amaranth und Quinoa, die Weltmeere kreuzen, dürfte der Effekt eher ein gegenteiliger sein. Auch scheint schwer vorstellbar, dass Enten und Hühnchen das Klima mehr belasten als industriell hergestellte, hochverarbeitete Fleischersatzprodukte, über deren CO2-Bilanz man auffällig wenig liest.
Es stimmt natürlich, dass wir kein Wachstum in dem Sinne brauchen, dass mit den heutigen Technologien immer mehr produziert werden sollte. Schon ein globales Weiter-so auf dem heutigen Level wäre für Umwelt und Klima tödlich. Zugleich ist nicht davon auszugehen, dass die ärmeren Regionen unserer Welt sich ein Einfrieren ihres Konsumniveaus auf dem derzeitigen Stand überhaupt vorschreiben ließen. Es hilft also nichts, wir werden auch in Zukunft Wachstum benötigen, allerdings in anderer Form als in der Vergangenheit: ein Wachstum, das nicht auf Verschleiß setzt, sondern auf langlebige Konsumgüter, deren Materialien anschließend möglichst komplett wiederverwendet werden können. Ein Wachstum, das auf neuen Technologien beruht, mit denen wir das Zeitalter des Raubbaus an unseren natürlichen Lebensgrundlagen und der Verfeuerung fossiler Brennstoffe beenden können. Der Schlüssel für eine umweltverträgliche Ökonomie sind folgerichtig nicht Anreize für Verzicht, sondern für wirtschaftliche Innovation.

Landwirte bekommen weniger
Ein Beispiel dafür, wie wenig die Forderung nach Preiserhöhungen zur Lösung echter Probleme beiträgt, ist die Debatte über höhere Fleischpreise. Teureres Fleisch wird bekanntlich sowohl zur Verringerung des Fleischverbrauchs als auch aus Gründen des Tierwohls gefordert. Beides sind an sich vernünftige Ziele. Zu viel Fleisch ist ungesund und die Verhältnis se in der industriellen Tierhaltung, in der Tausende Schweine, Kühe oder Hühnchen dicht gedrängt in viel zu engen Ställen dahinvegetieren, sind schwer erträglich. Dass unter solchen Bedingungen Antibiotika in hoher Dosis zum Einsatz kommen müssen, um den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern, sollte ein zusätzlicher Grund sein, diese Praxis zu beenden. Denn sie bringt eben nicht allein Leid für die Tiere, sondern auch Gefahren für Mensch und Umwelt mit sich.

Aber ist tatsächlich der Fleischpreis im Supermarkt verantwortlich für zu enge Ställe und unglückliche Hühner? Ist am Ende sogar Fleischbaron Tönnies mit seinen miesen Arbeitsverhältnissen ein bloßes Opfer geiziger Fleischkunden, die ihr Schnitzel im Discounter zu einem Preis kaufen, der gut verdienenden Politikern als zu niedrig erscheint? Es ist tatsächlich so, dass die Landwirte für ihre Tiere heute einen so niedrigen Preis bekommen, dass an artgerechte Tierhaltung kaum zu denken ist. Aber das hat mit dem Preis, den der Verbraucher im Supermarkt bezahlt, nur wenig zu tun. Denn in diesen Preis gehen die Einkommen der Landwirte, aber eben auch die Gewinne der Schlachtereien und Wurstfabriken, die dort gezahlten Löhne und schließlich die Margen der Lebensmittelketten ein. Die wichtigste Veränderung der letzten Jahrzehnte sind nicht etwa sinkende Preise auf der Verpackung im Kühlregal. Verändert haben sich vor allem die Anteile, die die verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer in der Fleischverarbeitungskette von diesem Preis bekommen. Diese Veränderung vollzog sich zulasten der Landwirte und zum Vorteil der Schlachter, Wurstfabrikanten und Händler.

Noch in den siebziger Jahren kam knapp die Hälfte dessen, was der Käufer im Supermarkt für Fleisch oder Wurst bezahlte, bei den Bauern an. Wer 1972 für 10 DM Schnitzel gekauft hat, hat den Züchtern der Schweine im Schnitt ein Einkommen von 4,80 DM beschert. Von 10 Euro, die heute für den Kauf von Schnitzelfleisch aufgewandt werden, bekommt der Landwirt dagegen nur noch 2,20 Euro. Bei anderen landwirtschaftlichen Produkten wie Kartoffeln, Zucker oder Getreide ist die Verschiebung noch dramatischer. Gibt ein Kunde 10 Euro für Brot aus, erhält der Bauer, der das Getreide gesät, gedüngt und geerntet hat, klägliche 40 Cent. Anfang der Siebziger waren es noch knapp 2 Euro. Fasst man alle landwirtschaftlichen Produkte zusammen, ist der Anteil der Bauern am Preis im Supermarkt von annähernd 50 Prozent in den Siebzigern auf nur noch 20 Prozent gesunken.

Höfesterben
Gesunken ist damit natürlich auch ihre Chance, eine Landwirtschaft zu betreiben, die nicht allein auf maximalen Ertrag bei möglichst geringem Aufwand setzt. Der Trend zu immer größeren industriell arbeitenden Landwirtschaftsbetrieben ist das Ergebnis dieses Drucks. Ebenso wie das leise Sterben der Höfe, die in diesem Preiskampf nicht mithalten können oder deren Inhaber mit ihren Tieren nicht so umgehen wollen. Allein seit 2005 hat jeder dritte Landwirtschaftsbetrieb in Deutschland dichtgemacht. Unternehmer wie Tönnies und Co., aber auch die Eigentümer der großen Lebensmittelketten sind dagegen zu Milliardären geworden. Es liegt also gar nicht am Endpreis. Es liegt daran, wer wie viel von diesem Preis bekommt. Ob ein höherer Fleischpreis im Supermarkt überhaupt bedeuten würde, dass es am Ende auch dem Bauern und Tierzüchter besser ginge, ist eine offene Frage. Denn die Verschiebung der Einkommensrelationen zwischen Landwirten auf der einen Seite und Schlachtern, Wurstproduzenten und Händlern auf der anderen ist kein Zufall. Sie liegt auch nicht darin begründet, dass die Produktionsschritte ab der Schlachtung teurer geworden wären. Im Gegenteil: Gerade in der Fleischverarbeitung ermöglichten die Legalisierung von Schein-Werkverträgen und der Beitritt armer Länder wie Rumänien und Bulgarien zur EU ein beispielloses Lohndumping und damit massiv sinkende Produktionskosten. Immerhin gab es in diesem Sektor früher mal normale Arbeitsverträge für Beschäftigte aus Deutschland.

Nicht ganz so drastisch, aber ähnlich ist der Trend im Lebensmittelhandel. Auch dieser gehört heute zum Niedriglohnsektor, in dem kaum noch reguläre, tariflich bezahlte Arbeitsverhältnisse existieren. Und auch das war nicht immer so. In den siebziger Jahren fehlten für all die Tricks, mit denen heute die Löhne niedrig gehalten werden – Minijobs, Dauerbefristungen, unfreiwillige Teilzeit – schlicht die gesetzlichen Voraussetzungen.

Die Macht der Wurstbarone und Lebensmittelketten
Dass Tönnies und Co. ebenso wie die großen Lebensmittelketten ihren Anteil am Fleischpreis derart steigern konnten, ist also nicht das Ergebnis höherer Aufwendungen, sondern wirtschaftlicher Macht. Einer Macht, die mit rasant gewachsenen Marktanteilen zu tun hat. Allein die vier großen Gruppen um Edeka, Rewe, Aldi und die Lidl-Gruppe beherrschen heute über 70 Prozent des Lebensmittelmarktes, Tendenz weiter steigend. Wer so stark ist, kann seinen Zulieferern die Preise diktieren. Die gleiche Macht wiederum haben große Fleischkonzerne wie die Tönnies Holding gegenüber den Landwirten, von denen sie ihre Tiere beziehen. Immerhin jedes dritte deutsche Schwein endet heute in einer Tönnies-Schlachterei. Wenn die Politik wirklich etwas für das Tierwohl, größere Ställe und artgerechte Fütterung tun wollte, müsste sie vor allem diese enorme Marktmacht brechen, die mit dem Anspruch fairen Wettbewerbs nicht vereinbar ist. Tatsächlich hatte Tönnies mehrfach mit dem Kartellamt zu tun, nur verliefen die Verfahren immer wieder im Sande. Ein Fall aus der Regierungszeit Siegmar Gabriels ist kurzzeitig in die Schlagzeilen gekommen, weil der Neffe des Inhabers den Verdacht geäußert hat, der Fleischbaron könnte den ehemaligen Wirtschaftsminister just deshalb mit monatlich 10 000 Euro honoriert haben, weil der ihn seinerzeit vor einer millionenschweren Kartellstrafe bewahrt hat. Aber egal, welche schützende Hand Fleischkonzerne wie Einzelhandelsketten immer größer und dreister hat werden lassen, ohne dass die Kartellämter jemals Handlungsbedarf sahen: genau hier liegt das Problem. Wer es beheben möchte, sollte den Entwurf für ein Entflechtungsgesetz, das der FDP-Politiker Reiner Brüderle in seiner Zeit als Wirtschaftsminister in Auftrag gab und nach massivem Druck großer Unternehmen, darunter vieler Geldgeber der FDP, in die Aktenordner versenkte, aus ebendiesen herausholen, entstauben, fertigstellen und im Bundestag abstimmen lassen.

Gesetzliche Regeln zu artgerechter Tierhaltung sind natürlich trotzdem nötig. Aber wer solche Regeln beschließt, ohne den Landwirten dann auch die Möglichkeit zu geben, bei den Schlachtern einen Preis herauszuholen, der ihre Mehrkosten deckt, wird erleben, dass am Ende nur noch mehr Höfe sterben und noch mehr Schweine zur Schlachtung aus anderen Ländern nach Deutschland transportiert werden. Dem Tierwohl wäre dadurch ebenso wenig gedient wie dem Klima.

In wenigen Jahren Milliardär
Die Frage, ob der angebliche Billigpreis im Kühlregal für die unsäglichen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie verantwortlich gemacht werden kann, ist damit auch beantwortet. Ein Unternehmen wie die Tönnies Holding, das Gewinne durchsetzen kann, die seinen Eigentümer in kürzester Zeit mit einem geschätzten Vermögen von 1,7 Milliarden Euro in die Liga der reichsten Deutschen katapultieren, ist ganz sicher kein Opfer von Margendruck und könnte seine Beschäftigten ohne Probleme anständig bezahlen. Auch um die Fleischindustrie wieder zu einem akzeptablen Arbeitgeber zu machen, brauchen wir also keine Ablenkungsdebatte über den Fleischpreis, sondern ein Verbot der Schein-Werkverträge und ein Ende der Lohnsklaverei, in deren Rahmen billige Arbeitskräfte aus ärmeren EU-Ländern gezielt nach Deutschland geholt werden, um hier das Lohnniveau zu drücken. Wir brauchen einen Branchenmindestlohn, der den in anderen westeuropäischen Ländern gezahlten, deutlich höheren Löhnen entspricht, und vor allem: regelmäßige Kontrollen, ob die gesetzlichen Bestimmungen auch eingehalten werden.
Politischer Wille vorausgesetzt, wäre das alles in kurzer Zeit umsetzbar. Der Fleischpreis müsste dadurch nicht in die Höhe schießen. Eine Entflechtung der heutigen Marktbeherrscher könnte stattdessen deren Gewinnmargenstutzen. Dann würden Fleischfabrikanten und Inhaber von Einzelhandelsketten womöglich keine Milliardäre mehr. Aber die Beschäftigten in den Fleischfabriken erhielten auskömmliche Löhne für ihre harte Arbeit, die Verbraucher bekämen gesünderes Fleisch zu immer noch moderaten Preisen, Millionen Tiere würden nicht mehr gequält und der Trend, Lebensmittel quer über den Globus zu transportieren, würde endlich gestoppt. Damit wäre übrigens auch dem Weltklima der größte Dienst erwiesen.

Einfach verrückt
Der Mix aus Lifestyle-Debatten und Preiserhöhungen, die vor allem die untere Hälfte der Bevölkerung belasten, aus subventionierten Elektro-SUVs und stillgelegten Bahnstrecken, aus propagierter Flugscham und weiteren Freihandelsverträgen, infolge deren noch mehr Güter, die vor Ort angebaut oder produziert werden könnten, aus den fernsten Winkeln der Welt hierhertransportiert werden, ist für das ökologische Klima mindestens genauso giftig wie für das politische. Denn was uns unter grünem Vorzeichen als Klimapolitik serviert wird, ist teilweise einfach verrückt: Man verbietet Plastikbesteck und Trinkröhrchen, aber schaut zu, wie die Plastikverpackungen normaler Gebrauchsgüter immer voluminöser werden. Man predigt Konsumverzicht, aber ist zu feige, der Praxis großer Firmen, die Lebensdauer ihrer Erzeugnisse bewusst zu verkürzen und ihre Reparatur zu erschweren, einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Als ob enthaltsame Konsumenten jemals die Schäden ausgleichen könnten, die allein diese Wegwerfwirtschaft anrichtet. Man streitet darüber, ob der Verbrennungsmotor für PKWs ab 2025 oder erst ab 2030 verboten werden soll, obwohl nicht der PKW-, sondern vor allem der LKW-Verkehr der Hauptverantwortliche für die Verfehlung der Klimaziele ist. Für Brummis allerdings ist E-Mobilität schon wegen der riesigen, tonnenschweren Batterien, die es hier für ein Mindestmaß an Reichweite bräuchte, keine Alternative. Man will lieber heute als morgen den Abbau heimischer Kohle stoppen und bezuschusst mit öffentlichem Geld den Ausbau der europäischen Flüssiggasterminals, über die in Zukunft noch größere Mengen des extrem klima- und umweltschädlichen Frackinggases aus den Vereinigten Staaten nach Europa gelangen sollen.

Zurück ins 19. Jahrhundert
Das nahezu komplette Scheitern der Umwelt- und Klimapolitik der letzten Jahre zeigt: So kommen wir nicht weiter. Die etwa von den Grünen -Steuern und bewusste Verteuerung läuft letztlich darauf hinaus, dass viele heute übliche Konsumartikel und Dienstleistungen wieder zu Luxusgütern werden, zu denen große Teile der Bevölkerung keinen Zugang mehr haben. Das mag im Sinne gut betuchter Grünen-Wähler ein Ausweg sein, für weniger Wohlhabende ist es keiner.

Wer nicht sozial ins 19. Jahrhundert zurück möchte, für den kann es nur einen Weg geben: Wir müssen nicht anders konsumieren, sondern vor allem anders produzieren. Unsere Wirtschaft muss regionaler werden, ungiftiger, ressourcenschonender. Wir brauchen Produkte, die möglichst lange ihren Dienst tun und sich anschließend reparieren lassen. Das erreicht man nicht durch Lifestyle-Debatten, sondern durch Gesetze, die die Hersteller zur Verlängerung der Garantiezeiten zwingen. Die sie verpflichten, kostengünstige Ersatzteile und Reparaturmöglichkeiten bereitzustellen und auf die Recycelbarkeit der Rohstoffe zu achten. Und wir brauchen neue Technologien, die echte Kreislaufproduktion und die flächendeckende Umstellung auf grüne Energie ermöglichen.

Bis dahin sollten wir uns bemühen, aus den bestehenden Technologien das Beste herauszuholen. Im Dezember 2019, als Deutschland über Flugscham und innerdeutsche Flugverbote diskutierte, rollte in Shanghai der erste Zug aus dem Bahnhof, der über die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke das 1 318 Kilometer entfernte Peking in nur viereinhalb Stunden erreicht. Die Distanz ist vergleichbar mit der Strecke von der Ostsee bis zum Mittelmeer. Aktuell hat China ein Schnellzugnetz von fast 30 000 Gleiskilometern, die Tickets sind günstig. Hätten wir in Europa Ähnliches, würden viele Flüge ihren Sinn verlieren und Staus auf den Autobahnen dürften seltener werden.

Ein anderes Beispiel: Solange die flächendeckende Versorgung mit grüner Energie noch gar nicht möglich ist und das Recycling ausgemusterter Batterien ein ungelöstes Problem darstellt, wäre es weit sinnvoller, die Autohersteller unter Druck zu setzen, das technisch mögliche Zwei- oder gar Ein-Liter-Auto in kurzer Zeit marktreif zu machen, als Steuergeld in die Förderung von Teslas und E-Porsches mit schwerem Fahrwerk und großer Batterie zu versenken.

Sind unsere Konsumgüter irgendwann komplett recycelbar, all unsere Energiequellen erneuerbar und unsere Flugzeuge tanken grünen Wasserstoff, können wir auch fahren, fliegen und konsumieren, so viel wir wollen. Aber um jemals dahin zu kommen, braucht die Menschheit keine stagnierende Ökonomie, sondern wieder eine innovative Wirtschaft. Das heißt: Nötig sind Anreize für neue technologischen Lösungen, die die Produktion nicht nur effizienter, sondern vor allem für Mensch, Umwelt und Klima verträglicher machen.

Ein neues Leistungseigentum

Wenn unsere Wirtschaft wieder produktiv und innovativ werden soll, wenn wir die großen technologischen Fragen in überschaubarer Zeit lösen und eine echte Leistungsgesellschaft werden wollen, die jedem ein gutes Leben und Aufstieg ermöglicht, müssen wir daher Grundlegendes verändern. Wie gezeigt, kann privates Eigentum und Gewinnstreben nur da den technologischen Fortschritt voranbringen und damit die Wohlstandspotenziale der Wirtschaft erhöhen, wo der Wettbewerb funktioniert und klare Regeln und Gesetze dafür sorgen, dass Kosten nicht zulasten von Beschäftigten und Umwelt gesenkt werden können.

Dienstleistungsbranchen, in denen Marktmacht strukturell angelegt ist oder Kommerzialisierung zu falschen Anreizen führt – etwa in Krankenhäusern, in denen Kranke und Behandlungsmethoden dann nach ihrem Ertragspotenzial ausgewählt werden –, gehören nicht in die Hände kommerzieller Investoren, sondern in gemeinwohlorientiertes Eigentum. Erst recht gilt das für die digitale Infrastruktur unserer Gesellschaft.

Unternehmen erfüllen ihre Aufgabe nicht
Aber auch in Industrieunternehmen brauchen wir eine Gestaltung des Eigentums, die es in Zukunft ausschließt, dass wertvolle wirtschaftliche Strukturen und die Arbeitsergebnisse Zehntausender Beschäftigter von Investoren geplündert und im schlimmsten Fall zerstört werden können. Es muss verhindert werden, dass ganze Unternehmen zum Spekulationsobjekt werden können und unter dem Einfluss dividendenhungriger Anteilseigner ihre ökonomische Aufgabe nicht mehr erfüllen: gute, langfristig gebrauchsfähige Produkte und sinnvolle Dienstleistungen anzubieten und den technologischen Fortschritt voranzubringen.

Die alte Rechtsform der Kapitalgesellschaft leistet das nicht, im Gegenteil. Die begrenzte Haftung für Unternehmensverluste bei gleichzeitig unbegrenztem Zugriff auf die Unternehmensgewinne ist ein Widerspruch in sich, der zum Ausplündern von Unternehmen geradezu einlädt. Denn alles, was die Eigentümer rechtzeitig rausgeholt haben, geht im Falle des Scheiterns nicht mehr in die Konkursmasse ein. Diese Konstruktion ist so eigenwillig, dass sie von Adam Smith bis Walter Eucken von allen echten Marktwirtschaftlern abgelehnt wurde und bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch nur für Bereiche von besonderem öffentlichem Interesse vorgesehen war. Trotzdem ist es kein Zufall, dass sie sich im Laufe der Zeit durchgesetzt hat. Kapitalgesellschaften ermöglichen am besten, was für kapitalistisches Wirtschaften charakteristisch ist: dass Unternehmen zu Anlageobjekten werden, um aus Geld noch mehr Geld zu machen.

Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen. Echtes Leistungseigentum muss Unternehmern das Leben erleichtern und Kapitalisten die Möglichkeit nehmen, Firmen ihre Logik aufzuzwingen. Es muss verhindern, dass Finanzinvestoren ein Unternehmen plündern oder Erbendynastien es im Streit zerlegen können. Es muss die Ära leistungsloser Millioneneinkommen für unternehmensfremde Eigentümer und die Vererbung von Wirtschaftsmacht beenden.

Begrenzung von Haftung und Gewinn Genau das würde ein Rechtsrahmen leisten, der den inneren Widerspruch der Kapitalgesellschaftaufhebt und die Logik der Begrenzung von der Haftung für Verluste auch auf den Anspruch auf Gewinne überträgt. Ein nach solchen Regeln funktionierendes Wirtschaftseigentum soll im folgenden Leistungseigentum heißen. Ein Unternehmen in Leistungseigentum hat keine externen Eigentümer, sondern einfach Kapitalgeber mit unterschiedlichem Verlustrisiko, die entsprechend höhere oder niedrigere Zinsen erhalten. Ist eine Einlage einschließlich Zinsen abbezahlt, gibt es keine Ansprüche mehr. Das Kapital gehört der Firma und die Firma gehört sich selbst. Viele erfolgreiche Stiftungsunternehmen wie Zeiss, Saarstahl, Bosch oder ZF Friedrichshafen arbeiten heute bereits nach diesem Prinzip.

Leistungseigentum würde sicherstellen, dass vor allem die, die im Unternehmen eine Leistung erbringen, von einer erfolgreichen Unternehmensentwicklung profitieren, während die Kapitalgeber ähnlich wie heute die Kreditgeber nach der Rückzahlung eines bestimmten Betrags abgefunden sind. Management und Belegschaft müssten dann keine Heuschrecken mehr fürchten, die sie über-nehmen und ausweiden könnten. Zerstrittene Erben könnten ihnen nichts mehr anhaben und auch keine chinesischen Staatsfonds, die es auf Marke und Know-how abgesehen haben.

Keine externen Eigentümer
Der weit überwiegende Teil der Kapitalbildung in größeren Unternehmen geht ohnehin auf die Wiederanlage von Gewinnen und nicht auf Kapitalerhöhungen von außen zurück. Letztere sind nur in Zeiten besonders schnellen Wachstums oder eben in Krisen notwendig und auch bei Unternehmen in Leistungseigentum möglich. Auch Stiftungen haben keine externen Eigentümer. Brauchen Unternehmen in hundertprozentigem Stiftungseigentum Kapital, müssen sie auf Finanzierungen zurückgreifen, die keine Eigentumsansprüche begründen. Zeiss hat so eine 150-jährige Firmengeschichte, zu der immerhin zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise gehörten, problemlos und erfolgreicher als viele Unternehmen in Privatbesitz gemeistert.

Doch Stiftungskonstruktionen sind kompliziert und eigentlich für gemeinnützige Aufgaben vorgesehen. Hier aber geht es um kommerzielle, gewinnorientierte Unternehmen, die sich von den heutigen nur dadurch unterscheiden würden, dass niemand sie mehr ausnehmen, kaufen, verkaufen, vererben oder ihnen sachfremde Kriterien der Unternehmensführung aufzwingen kann. Für kommerzielle Unternehmen war der Umweg über das Stiftungseigentum immer ein umständlicher Behelf, weil das Eigentumsrecht keine passenderen Möglichkeiten bereithielt. Deshalb ist ein neuer Rahmen notwendig, der außerdem nicht Ausnahme bleiben, sondern bei großen Unternehmen zur Regel werden sollte.

Um zu verhindern, dass die Führungsetage eines Unternehmens nachlässig, schlampig oder einfach schlecht arbeitet, braucht es keine externen Eigentümer. Was es braucht, sind Kontrollorgane, die mit Leuten besetzt sind, deren Interesse sich möglichst mit dem einer langfristig guten, stabilen und erfolgreichen Unternehmensentwicklung deckt. Wenn die Mitarbeiter – vom Hilfs- über den Facharbeiter bis zum leitenden Angestellten – gewählte Vertreter in das Kontrollgremium entsenden, ist gewährleistet, dass sich die Interessen der gesamten Belegschaft dort wiederfinden.
Je nach Größe und öffentlichem Gewicht des Unternehmens könnten auch Vertreter der Gemeinde, des Bundeslandes oder, bei sehr großen Unternehmen, des Bundes Mitspracherechte erhalten. Das ist vor allem sinnvoll bei sehr großen Unternehmen, deren Investitionsentscheidungen die gesamte Volkswirtschaft betreffen, oder bei solchen, die von öffentlichen Forschungsgeldern oder anderen Unterstützungen profitieren. Auch gemeinnützige Unternehmen ließen sich in der Form des Leistungseigentums führen, dann müssten im Kontrollgremium Vertreter der Allgemeinheit genau diese Gemeinnützigkeit als Kriterium der Unternehmensführung überwachen.

Stiftung Verantwortungseigentum

Interessanterweise wird ein ähnliches Modell wie das hier vorgestellte Leistungseigentum inzwischen auch von vielen aktiven Unternehmern gefordert. 32 von ihnen haben im November 2019 die Stiftung »Verantwortungseigentum« gegründet, mittlerweile hat sie bereits über 600 Unterstützer. Von der Stiftung wurde ein Gesetzentwurf für eine »GmbH in Verantwortungseigentum« vorgestellt, die den hier skizzierten Ideen zwar nicht genau entspricht, aber nahekommt. Will ein Unternehmer vollen Zugriff auf sein Eigentum und seine Gewinne, kann er immer noch eine Personengesellschaft mit voller Haftung gründen, was im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, für die der Wettbewerb funktioniert, in jedem Fall eine Alternative bleibt. Auch für Industrieunternehmen in Leistungseigentum verlangt die Verbesserung der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft mehr Wettbewerb und daher die Entflechtung großer Konzerne. Sie erfordert die Rückkehr zu leistungsgerechter Bezahlung und einen Staat, der seine Rolle als Forschungsfinanzier und strategischer Investor wieder zu übernehmen bereit ist. Und sie erfordert, dass wir die Globalisierung, wie sie in den zurückliegenden drei Jahrzehnten vorangetrieben wurde, beenden, Wertschöpfung nach Europa zurückholen und die Finanzmärkte neu ordnen. Unter solchen Voraussetzungen stehen die Chancen gut, dass unsere Wirtschaft ihre Innovationskraft zurückgewinnt.

(aus: Sahra Wagenknecht: „Die Selbstgerechten“, Campus-Verlag Frankfurt / New York 2021, S. 284-295)