Zur Ostseekooperation: Estlands Nationalepos „Kalevipoeg“ aus sozialökologischer Perspektive

Der Kreis Plön und Estlands Landkreis Lääne Virumaa sind schon seit Sowjetzeiten (1989) miteinander partnerschaftlich verbunden, wie auch die Städte Lütjenburg und Rakvere. Unser Mitstreiter Bernd Friedrich, Kreistagsabgeordneter der LINKEN, hat sich sehr um diese Partnerschaft verdient gemacht. – Vor fünf Jahren erarbeitete ich den folgenden Beitrag für die Zeitschrift „Erotema“ der Hanse-Akademie Lübeck, einen eingetragenen Verein für die europäische Kulturintegration. Der angefügte Ausschnitt aus einem Vortrag des Hannoveraner Psychotherapeuten Peter Petersen soll zugleich beispielhaft aufzeigen, wie die Forderung des Programms der Linkspartei (Teil IV, Abschnitt 4), den sozialökologischen Gesellschaftsumbau als „eine wesentliche Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen“ anzusehen, interpretierbar sein könnte (vgl.: http://old.culturescapes.ch/fileadmin/culturescapes.ch/resources/2006_Presse/files/Kalevipoeg%20heute%20von%20P.%20Petersen.pdf ):

„Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts war Geschichtswissenschaft entweder eine zusammenhanglose Ansammlung von Kuriositäten, oder eine schematische Aneinanderreihung biblischer Geschichten. Vertreter der französischen Aufklärung kritisierten die feudalen Verhältnisse vom Standpunkt des Bürgertums, welches ein Zusammengehen mit dem einfachen Volk im Kampf um die Macht anstrebte; folglich entstanden unter ihnen die ersten systematischen Gedanken zu gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen. In seinem Reisejournal, während der mehrwöchigen Seereise von Riga nach Nantes, stellte sich Herder 1769 die Aufgabe, eine „Universalgeschichte der Bildung der Welt“ zu schreiben: Lebendige Menschenkräfte seien die Triebfeder der Geschichte. Die Menschheit durchlaufe aufeinander folgende Stufen der kulturellen Entwicklung, wobei jede Generation Erbe all dessen sei, was von den vorausgegangenen Generationen erarbeitet wurde.

„Die Menschen schaffen sich immer mehrere und bessere Werkzeuge … die Natur des Menschen ist Kunst“ (Briefe zur Beförderung der Humanität, Zweite Sammlung, 1793, Brief 25). Damit nimmt Herder spätere Gedanken von Marx vorweg: Die Menschheit entwickelt sich durch den Arbeitsprozess und vervollkommnet sich durch ihren Werkzeuggebrauch. Kulturell seien manche Völker weiter fortgeschritten als andre und unterdrücken jene; so hätten sich die Deutschen an den Slawen „hart versündigt“ (Herder: „Ideen zur Geschichte der Menschheit“). Der höchste Entwicklungsstand einer Gesellschaft sei die Stufe der Humanität, in der jedes Individuum, ohne einen anderen zu fürchten, seine Fähigkeiten frei entfalten könne.

„Das Schicksal der Völker an der Ostsee macht überhaupt ein trauriges Blatt in der Geschichte der Menschheit … Die Menschheit schaudert vor dem Blut, das hier vergossen ward in langen wilden Kriegen, bis die alten Preußen fast gänzlich ausgerottet, Kuren und Letten hingegen in eine Knechtschaft gebracht wurden, unter deren Joch sie noch jetzt schmachten. Vielleicht verfließen Jahrhunderte, ehe es von ihnen genommen wird und man zum Ersatz der Abscheulichkeiten, mit welchen man diesen ruhigen Völkern ihr Land und ihre Freiheit raubte, sie aus Menschlichkeit zum Genuß und eignen Gebrauch einer bessern Freiheit neu bildet“ (Herder: „Ideen zur Geschichte der Menschheit“, 4. Teil, 16. Buch).

Zur Emanzipation der baltischen Völker bedurfte es der von Herder erhofften, ihre Schulden vor der Geschichte tilgenden Menschlichkeit der Deutschen nicht. Insofern zieht sich eine sichtbare Spur der Bewegungen und Leiden der baltischen Völker: Über die Aufhebung der Leibeigenschaft 1811 und 1816, die Entwicklung des estnischen, lettischen und litauischen Bürgertums und der baltischen Arbeiterschaft im Zuge der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts, die Teilnahme lettischer Schützen und estnischer Arbeiter an der Oktoberrevolution 1917 und die Gründung der baltischen bürgerlichen Republiken 1920 als Teil der Versailler Verträge, den Schacher des Hitler-Stalin-Pakts vom 22. August 1939, Nazi-Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion am 22.6.1941, die Rückeroberung/Befreiung des Baltikums durch die Rote Armee 1944/45, den Despotismus stalinistischer Herrschaft einschließlich der Verschleppung Hunderttausender Balten in sibirische Gulags bis zur „Singenden Revolution“ Ende der 1980er und frühen 1990er Jahre, gipfelnd in zwei Millionen TeilnehmerInnen an der Menschenkette von Tallinn über Riga bis nach Vilnius am 22. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts. Beängstigende Wirtschaftsdaten der Gegenwart weisen auf neue Abhängigkeiten vom internationalen Finanzkapital und neue Leiden der baltischen Völker hin.

Ähnlich dem finnischen Kalevala entstand fast zeitgleich das estnische Nationalepos „Kalevipoeg“. Im Unterschied zu Finnlands Nationaldichtung, die zu 97 Prozent aus den Überlieferungen ostfinnischer Völkerschaften zusammengetragen wurde, ist das Kalevipoeg im Wesentlichen eine Nachdichtung durch Friedrich Kreutzwald, welcher sich nicht nur aus Karrieregründen einen deutschen Namen zulegte, sondern als aufgestiegener Sohn estnischer Leibeigener das Seelenleben seiner PatientInnen durch seine lebenslange ärztliche Praxis hinreichend kannte. Aus seiner literarischen Schöpfung – entstanden aus der Absicht, der eigenen Nation zum Selbstbewusstsein zu verhelfen – resultiert die Chance, den im Epos verborgenen, durch Leid und Widerstand definierten Volkscharakter offen zu legen. Insofern erweist sich das Kalevipoeg als eine Widerspiegelung von Leiden und Entwicklung des estnischen Volkes, ein Eldorado für heutige Psychotherapeuten.

Die folgenden Aussagen sind entnommen einem Vortrag des Hannoveraner Psychotherapeuten Peter Petersen vom November 2006: „Kalevipoeg heute – Die Bedeutung des estnischen Nationalepos für die gegenwärtige Gesellschaft“:

„5. Ökologische Verantwortung durch Wahrnehmung unseres Ursprungs: Verbundensein mit Tradition und Natur, der Landschaft, der Menschenseele, der Gestalt der Sprache.

Verantwortung für die Natur ist heute viel umfassender zu verstehen als lediglich Naturschutz in abgegrenzten Arealen einer Landschaft. Auf dem Spiel steht die Natur der Welt und die Natur des Menschen und zugleich die Frage: In welche Richtung ist der Fortschritt zu entwickeln? In die Richtung einer manipulativen, die natürlichen Ursprünge vernichtenden Technik? Oder in eine Richtung, die den Ursprung unserer Welt – und Menschenevolution sorgsam beachtet und diese Quellen weiter entwickelt – im Sinne sogenannter sanfter   Technologien? Beispiele aus der Energiewirtschaft sind Atomkraft mit ihren destruktiven Folgen gegenüber sogenannten erneuerbaren Energien, aus Wind- und Sonnenkraft gewonnen. Die Schöpfung geht weiter – durch uns. Wir haben zu entscheiden, ob wir aus ökologischer Verantwortung oder aus Missachtung der Ursprünge handeln werden. Ökologische Verantwortung ist nur realisierbar in der tiefen Verbindung mit den Ursprüngen. Menschen, die sich von den Wurzeln ihrer Ursprünge abschneiden, können schwerlich zu ökologischer Verantwortung finden.

Auch das Kalevipoeg-Epos gibt seine Antwort: Natur heißt verbunden sein mit den Ursprüngen durch Poesie. Das gesamte Epos ist in allen Gesängen immer von Bezügen zur biologischen, landwirtschaftlichen und kosmischen Natur durchzogen. Zuerst begegnet mir die Naturverbundenheit mit den herrlich plastischen Naturschilderungen und deren gewaltiger Erhabenheit und Macht. Die Einführung des Epos beginnt mit den Worten:

„Saust heran, ihr alten Sagen,                                                                                                                                                     Mären von den Kalev-Männern                                                                                                                                                   hebet euch von Kalmas Hügel                                                                                                                                                schwellet an aus schwerem Nebel …“

Und das Epos endet mit dem Bild vom Felsen, der des Kalevipoeg Faust festhält; am Jul-Fest rüttelt Kalevipoeg an dieser Fessel:

„Dass der Bodendruck erbebet,                                                                                                                                                      dass die Hügel schwingend schwanken                                                                                                                                        dass die Meerflut mächtig schäumet“ (20, 1038 ff)

Sonne, Mond und Sterne erscheinen personifiziert als Freier der Linda (1, 182 ff). Linda selbst ist – als die dem Birkhuhnei Entsprossene – kreatürlich mit den Tieren verbunden.

Die Tiere erscheinen immer wieder als hilfreiche Vermittler und Wegweiser für den Menschen: Auf der Nordlandfahrt ist es der Rabe (16). Auf dieser Nordlandfahrt wird Lennok, das kunstvolle Silberschiff, durch einen Walfisch vor dem Verschlingen im Höllenrachen gerettet, unter Varraks Leitung. Der Sprachendeuter übersetzt die Sprache der Vögel (16, 352 ff); der Vogelsprachenkundige löst die drei Rätsel des Riesen-Vaters, Lösungsworte sind

Naturnamen: Biene, Regenbogen, Regen (16, 804). Während der zweiten Höllenfahrt sind die entscheidenden Tiere: Der Rabe, das Mäuschen, die Kröte, der Krebs, die Grille(18, 103-305) – sie raten dem Kalevipoeg, das Glöcklein zu benutzen, um die hinderlichen Abwehrformen der Hölle zu überwinden. Psychologisch gesprochen: Die Illusionen zu durchschauen und durch seine Erkenntnis zu besiegen.

Fast jede einschneidende Szene wird durch Naturexpressionen dem Hörer nahe gebracht – Mensch und Natur sind eng verbunden, gelegentlich sind sie noch Einheit (wie in Lindas Herkunft).

Auch nach seinem Tod ist der Mensch weiter aufs Engste verbunden mit der Natur. Die Geistseelen der Toten verbinden sich mit den Wassern der Bäche. So heißt es nach der letzten großen, erfolgreichen Abwehrschlacht, als Kalevipoeg seine Toten betrauert (20, 374-384):

„Unterm Rasen reihenweise                                                                                                                                                               um den See zusammengeschichtet                                                                                                                                               grub man ein die jüngst Gefall‘nen                                                                                                                                                 die erschlag‘nen teuren Toten;                                                                                                                                                        dass, wenn Regen niederrieselnd,                                                                                                                                               wenn verborgener Bäche Zufluss                                                                                                                                                   weit ausbreiteten die Wogen                                                                                                                                                             ob der trüben trocknen Stätte:                                                                                                                                                            lispelnd die geliebten Geister                                                                                                                                                              in der Wasserwogenwallung                                                                                                                                                      mitternachts die Weise würzten.“

Ein wichtiges Verbindungsglied zu den Ursprüngen ist die Tradition – die Beziehung zu den toten Vorfahren, die Pflege der Gräber, der Dialog mit den Toten, die Rückbindung (Religion) an die Werte und Worte der Eltern. Die drei Brüder haben vom Grab des Vaters erfahren, wie der König zu küren sei (7, 718-804 und 8). Im Dialog mit dem Vater erfährt Kalevipoeg vom Vater aus dem Grab Tröstung über die verlorene Mutter (7, 805-858). Kalevipoeg begibt sich seiner Führungsqualitäten, als er dem Varrak das Kästchen mit den Regeln der Staatslenkung überlässt, ohne sich über die Tragweite dieses Geschenkes Rechenschaft abzulegen (siehe oben, 19, 930). Hier schneidet der Held sich von den Ursprüngen, von der Tradition ab, er leitet damit die Beendigung seines Königtums ein.

Von lebenswichtiger Bedeutung wird das Verbundensein mit der Mutter beim letzten Kampf mit dem Teufel: Der Schatten der Mutter gibt ihm Weisung – er greift die Weisung auf und bändigt den Gehörnten (19, 64-83).

„Wachsam schaut der Mutter Schatten,                                                                                                                                        wie der Sohn ermattet mählich;                                                                                                                                                        kurz gefasst nimmt sie die Kunkel,                                                                                                                                         schwenkt sie zehen mal geschwinde                                                                                                                                           über‘s Haupt in heft’ger Drehung                                                                                                                                                 wirft sie heftig dann zu Boden                                                                                                                                                     Wink und Weisung ihrem Sohne.                                                                                                                                             Kalevs kerniger Erzeugter,                                                                                                                                                         wusste sich der Mutter Meinung                                                                                                                                                 leicht und löblich auszulegen                                                                                                                                                           packte fest den Feind am Knieband                                                                                                                                      quetscht am Hosenquerl den Unhold,                                                                                                                                         hebt wie Windstoß ihn gewaltig,                                                                                                                                                     wie die Kunkel hoch zu Häupten                                                                                                                                       schwenket zehen mal geschwinde                                                                                                                                                   wie ‘nen Quast von Werg den Wütrich,                                                                                                                                       wirft ihn schwirrend dann im Schwunge                                                                                                                             rücklings auf den Rasenboden,                                                                                                                                                    kniet ihm auf die Brust, die knacket.“

Psychologisch aufgefasst erscheint hier der produktive Aspekt des archetypischen Mutterbildes in der Seele des Helden. Indem er sich mit dieser Kraft verbindet, kann er die Destruktivität bändigen. Wir haben oben gesehen, welche schicksalsträchtige Rolle die tabuisierte Trauer um die Mutter für Kalevipoeg in seinem ganzen Leben spielt.

Diese bisher geschilderten Aspekte des Verbundenseins mit den Ursprüngen sind natürlich gegeben. Es ist gewissermaßen ein Geschenk von Mutter Natur an den Menschen. Aufgegeben jedoch ist die bewusste Gestaltung dieses ursprünglichen Verbundensein.

Das geschieht durch die kulturschöpfende Leistung des Epos selbst. Die ursprünglich im estnischen Volk lebenden Gesänge, Erzählungen und Märchen erfahren durch das Werk Kreutzwalds eine neue Schöpfung: Die Komposition, die Sprache und der Rhythmus der Sprache (im wiegenden Trochäus des lang-kurz, lang-kurz…) heben die Gesänge des Volkes in die imaginative Dimension der Kunst.

Diese Kunst ist nicht zerfasert durch postmoderner Beliebigkeit. Diese Kunst gehorcht mehrfachen strengen Bindungen:

♦ Sie ist an den Sprachrhythmus gebunden.

♦ Sie wiederholt in Rhythmen wichtige Aussagen und Ereignisse. Bei wesentlichen Ereignissen werden dieselben  oder ähnliche Wort- und Verskompositionen rhythmisch wiederholt: Sechs mal werden die Widerstände gegen Kalevipoegs Vordringen ins Zentrum der Hölle mit den gleichen Wortfolgen wiederholt (18, 98-318), verbunden mit dem weisheitsvollen Rat der sechs Tiere (siehe oben). Rhythmus ist ein wesentliches Element gestalteter Sprache. Der russische Universalgelehrte Pawel Florinski weist uns auf drei grundlegende Elemente der Sprache hin: Den Sinn (die Bedeutung), den (musikalisch spürbaren) Laut-Aspekt und die Gestalt. Gestalt erhält unsere Sprache unter anderem durch den Rhythmus.

♦ Gebunden ist die Sprache des Epos weiterhin durch die Quelle ihres Inhalts. Es sind die Volkserzählungen. Und das Epos gibt den estnischen Worten eine moderne Gestalt, Voraussetzung für das Selbstbewusstsein estnischen Volksgeistes und die Bildung des estnischen Staates im 20. Jahrhundert.

Ökologische Verantwortung bildet sich durch bewusste und schöpferische Gestaltung des unbewussten Verbundenseins mit den Ursprüngen. Das ist eine weitere Botschaft des Kalevipoeg-Epos.“