Erwiderung zu Prof. Brandt: Wir wollen die allgemeine Lebensqualität auch bei der Elektro-Mobilität steigern

Hier ist die Antwort von Hansjürgen Schulze vom Sozialökologischen Bündnis Plön zum Beitrag von Prof. Götz Brandt:

„Wolfgang Harich sprach in seinem Buch von 1975 („Kommunismus ohne Wachstum?“) vielen zurzeit aktiven Mitgliedern der Ökologischen Plattform bei der Linkspartei aus dem Herzen: „Von dem PKW in Privatbesitz glaube ich, daß er über kurz oder lang aus der sozialistischen Gesellschaft verschwinden wird. Aus sozialen wie ökologischen Gründen gehört hier die Zukunft einem optimalen Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel sowie dem Fahrrad und, nicht zu vergessen, der gesunden, dem Herzinfarkt vorbeugenden Lebensweise des Fußgängers“ („Kommunismus ohne Wachstum?“, S.156).

Diese Aussage war 1975 bezogen auf die individuelle Automobilität auf der Höhe der Zeit. Heute ist sie m.E. rückwärtsgewandt. Das ist zu begründen.

Harichs Buch entstand drei Jahre nach dem MIT-Bericht an den 1968 von westeuropäischen Industriellen gegründeten Club of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“. Dieser Bericht hatte vor dem Zur-Neige-Gehen der materiellen Ressourcen der Menschheit durch das fortwährende Wirtschaftswachstum gewarnt. Harich sah darin ein zentrales Feld der aktuellen Klassenauseinandersetzung: Kapitalismus kann, im Unterschied zum Kommunismus, ohne dauerhaftes Wachstum nicht existieren. „Durch den Kapitalismus, sagt Marx in der ‚Deutschen Ideologie‘, würden die Produktivkräfte zu Destruktivkräften. Genau das erleben wir jetzt“ (S. 60). Marx habe in der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ eine Überflussgesellschaft konzipiert. Aber er „würde heute nicht mehr darauf bestehen, daß alle ‚Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen‘ müssten. Er würde vielmehr, und sei es selbst um den Preis eines Rückgriffs auf Babeuf, den Kommunismus als die entscheidende Voraussetzung anstreben, die ökologische Krise in den Griff zu bekommen“ (S. 201 f).

Was hat es mit Harichs Hinweis auf das Sprachrohr der radikalen Linken während der Französischen Revolution Gracchus Babeuf (1760-1797) auf sich? Der Untertitel zu seinem Buch lautet: „Babeuf und der ‚Club of Rome‘“. Unter Berufung auf das „Manifest der Plebejer“ von 1795 hielt er 1975 jede Gesellschaft nur bei radikaler Gleichheit aller Mitglieder für zukunftsfähig: „Kommunismus heißt gerechte Verteilung, konsequent, radikal durchgeführt“ (S. 59). Es ist ein Programm der konsequenten Verteilung des materiellen Mangels, d.h. Gleichheit in der Armut (Marx: MEW 40, S. 534-536). Dazu bedürfe es eines starken, vormundschaftlichen Staats, dessen Funktionäre den Einzelnen das ihnen Zustehende top down zuweisen. Babeuf zufolge muss die Regierung verhindern, dass Einzelne durch individuelles Geschick oder auf andere Weise einen größeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum erwerben. (Entsprechend verpönt war für Harich der individuelle Besitz eines Autos.) – Im Sozialismus als (m.E. vermeintlich) erster kommunistischer Phase können keine kapitalistischen Konzerne mehr die Regierung von vernünftigem Handeln abhalten. Weil Weltfrieden oberste Doktrin sozialistischer Außenpolitik sei, hätte sie kein Interesse an Kriegen um Ressourcen. Rigide Geburtenbeschränkung sei unausweichlich. Eine kommunistische Weltregierung solle den Bewohnern übervölkerter Gebiete Lebensräume in schwächer besiedelten Regionen zuweisen: „eines Tages werden, um eine gleichmäßigere Verteilung der Erdbevölkerung zu erreichen, die aus ökologischen Gründen sehr zu empfehlen wäre, von einer kommunistischen Weltregierung sowieso Umsiedlungsaktionen im globalen Maßstab durchgeführt werden müssen“ (S. 41). Das war gedanklich konsistent – und zugleich ökostalinistisch.

Warum bewegte sich Harich auf der Höhe seiner Zeit? Und was daran ist heute überholt? W. Harich kannte die relevante Weltliteratur zu den „Limits of Growth“, darunter Nicholas Georgescu-Roegens „The Entropy Law and the Economic Process“ von 1971: Nach dem zweiten thermodynamischen Gesetz (Entropiegesetz) nimmt die Konzentration von Energie mit ihrer Nutzung ab. Beispiel: Die erhitzten Dampfpartikel innerhalb einer Dampflokomotive verbreiten sich gleichmäßig im Kessel. Indem ihr Strom dabei durch einen Engpass geführt wird, erzeugt er Druck und treibt die Lok voran.  Danach zerstreuen sich die Partikel und kühlen auf Raumtemperatur ab, sodass sie nur durch Energiezufuhr von außen (ein paar Schippen Kohle) erneut für den Antrieb genutzt werden können: Ohne diese Zufuhr wäre die Entropie in einen höheren, weniger energiereichen Zustand gestiegen. Das gilt für alle ökonomischen Prozesse. Die Entropie jedes Wirtschaftskreislaufs steigt: es entsteht Abfall.

Die Folgen für die Menschheit sind dramatisch: Alle fossilen Rohstoffe (Kohle, Erdöl, Erdgas) sind in der Erdrinde gespeicherte Solarenergie. Seit der Industriellen Revolution verzehrt die Menschheit den in Millionen Jahren aufgespeicherten Energievorrat auf wachsender Stufenleiter. Das galt 1971 für fast jede im Wirtschaftsprozess genutzte Materie. Georgescu-Roegen entdeckte darüber hinaus das „vierte Gesetz der Thermodynamik“: Eisen zerfällt nach x-maliger Verwendung über diverse Recyclingprozesse zu Staub – es rostet. Die Partikel von Autoreifen reiben sich durch ihre Nutzung ab und breiten sich auf den Straßenbelägen aus. Für eine erneute Verwendung sind sie nicht mehr zu gebrauchen. Auch das lässt sich verallgemeinern: Der Vorrat an fossilen und fast allen weiteren Rohstoffen schwindet mit steigender Entropie. Es war letztlich dieser Nachweis der Unentrinnbarkeit aus der heraufziehenden Apokalypse, der Wolfgang Harich 1975 zu seinem verstörenden Buch trieb.

Das unscheinbare Wort „fast“ deutet auf den gravierenden Wandel seit den 1970er Jahren hin: Was damals zeitgemäß erschien, ist es heute nicht mehr. Es gelang, dem bis dahin geschlossenen System Gaia (Planet Erde) permanent Energie von außen zuzuführen: Die Sonne schickt uns Tag für Tag das Fünfzehntausendfache des Energiebedarfs der Menschheit. Es gelingt immer besser, das Entropiegesetz durch Energiezufuhr von außen außer Kraft zu setzen: Solarwärme, Photovoltaik, Windkraft und Biomasse sind frisch von der Sonne gelieferte Energie. Durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt gelingt es zunehmend, neben Nahrungsmitteln zugleich nachwachsende Rohstoffe zu erzeugen und perspektivisch auch das vierte Gesetz der Thermodynamik zu umgehen. Etwa bei der Produktion von Karosserien durch Verwendung von Kunstfasern aus Flachs, Hanf oder anderen nachwachsenden Rohstoffen. Zur Finanzierung: https://sozialoekologisches-buendnis-ploen.de/sozialoekologischer-umbau-grundlagen-teil-2-kreditbasierte-finanzierungskonzepte/.

Daher stimme ich nicht mit Prof. Brandt überein, der wegen des vermeintlich unentrinnbaren Zur- Neige-Gehens aller Rohstoffe die Zukunft linker Verkehrspolitik im Schrumpfen der individuellen Mobilität auf das Format von Elektro-Seifenkisten sieht (ich stelle mir darunter eine elektromotorisierte Neuauflage der BMW-Isetta oder des legendären Messerschmitt-Kabinenrollers KR 200 der 1950er Jahre vor), sondern in der Umsetzung moderner Verkehrskonzepte als Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. An Stelle des Verzichts auf individuelle Lebensqualität („Gleichheit in der Armut“) steht eine Steigerung der Lebensqualität für die breite Masse auf der Agenda des sozialökologischen Gesellschaftsumbaus, wobei den neusten technologischen Entwicklungen auf dem Gebiet der fahrerlosen Automobilität ein hoher Stellenwert zukommt: Neben einem starken Ausbau des ÖPNV und des Radverkehrs könnten in voraussichtlich zwanzig Jahren u.a. genossenschaftliche fahrerlose E-Kleinbusse, fahrerlose E-Sammeltaxis und fahrerlose herkömmliche E-Taxis einen Großteil des Personenverkehrs übernehmen. PKW stehen Tag für Tag an 23 Stunden herum und sind daher Stehzeuge. Es macht für die meisten Menschen Sinn, an Stelle des teuren Unterhalts eines eigenen PKW bei Bedarf per Smartphone ein autonomes Sammelfahrzeug zu buchen, sich vor der Haustür abholen und zum Bahnhof oder zur Haustür am Zielort bringen zu lassen. Dies innerhalb der „Großen Transformation zu einer klimaverträglichen Gesellschaft“ (WBGU 2011).

Der Ökologischen Plattform bei der Linkspartei täte es gut, sich auf dem theoretischen Niveau eines Wolfgang Harich zu bewegen: Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Gestaltung von Mobilität sind nur eine Hülle für die auszufechtenden Grundkonflikte zwischen den gesellschaftlichen Klassen.“

Literatur:

Harich, Wolfgang: „Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘. Sechs Interviews mit Freimut Duve und ein Brief von ihm“, Reinbek (Rohwohlt-Verlag) 1975

Marx, Karl: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Marx-Engels-Werke, Bd. 40, Berlin (Dietz-Verlag) 1973