Hype oder Kairos? – Thesen zum Höhenflug der Grünen

Vorbemerkung: Ich (H. Schulze) habe mir erlaubt, diesen hervorragenden Artikel des Sozialwissenschaftlers Götz Eisenberg aus den NachDenkSeiten vom 5. November zu kürzen. Der gesamte Beitrag kann hier abgerufen werden:  https://www.nachdenkseiten.de/?p=46900

„Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“, heißt es beim frühen Marx. Dieses Zitat aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fiel mir ein, als ich über den rätselhaften Höhenflug nachdachte, den die Partei Die Grünen derzeit erlebt. Die meisten Kommentatoren neigen dazu, ihn für einen Hype zu halten, ein typisches Phänomen des Medien- und Internetzeitalters. (…) Einiges spricht dafür, dass der Höhenflug der Grünen mehr ist als das. Er wird von objektiven Tendenzen gespeist, die sich hinter dem Rücken der Akteure durchsetzen und ihnen selbst nicht einmal bewusst sein müssen.  (…)

Was ist ein Kairos?

Es gibt Ideen und politische Projekte, die existieren lange, ohne nennenswerte Beachtung zu finden. Sie dümpeln im Abseits vor sich hin und vermögen nur eine kleine Anhängerschaft zu mobilisieren, der mitunter etwas Sektenartiges anhaftet. Ideen und Projekte benötigen einen geschichtlichen Atem, brauchen den Wind einer historischen Tendenz im Rücken. Wenn die Wirklichkeit sich endlich zum lang gehegten Gedanken drängt, kommt es plötzlich zu einer Verbindung von aus den Subjekten kommenden Kräften mit den objektiven Verhältnissen. So etwas nannte man im alten Griechenland Kairos. (…) Erleben die Grünen und ihre Sympathisanten gegenwärtig einen solchen Kairos? Und wenn ja, warum gerade heute?

Es scheint in Bezug auf die mediale Abstumpfung einen Punkt zu geben, an dem die Verdrängung nicht mehr funktioniert. (…) Die drohenden Fahrverbote, der trotz anderslautenden Klimaschutz-Beteuerungen stetig steigende Ausstoß von Treibhausgasen und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken, der bevorstehende Kollaps des Individualverkehrs in den Städten und der Pendler-Wahnsinn, der über alle Maßen heiße Sommer, die damit einhergehende Wasserknappheit, die Bilder von nach Sauerstoff japsenden und toten Fischen, die in immer rascherer Folge sich ereignenden Stürme und Überschwemmungen, die riesigen Waldbrände bis hinauf in den hohen Norden Europas haben die ökologische Krise für viele Menschen endlich aus der Abstraktion gerissen und der Wahrnehmung zugänglich gemacht. Nachrichten über das Sterben der Bienen und Insekten, den Schwund von Vogelarten tun ein Übriges. Wer sich einen Rest von kritischem Urteilsvermögen und Sensibilität bewahrt hat, spürt, dass es so nicht weitergehen kann und dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.

Seit der Club of Rome 1972 seinen Bericht über Die Grenzen des Wachstums vorgelegt hat, könnten wir um die Gefährdung des Planeten und die Endlichkeit seiner Ressourcen wissen. Die Mahner blieben umgeben vom Odium der Schwarzmalerei und des apokalyptischen Spinnertums. (…) Die traditionelle Linke hielt die räuberische und zerstörerische Beziehung des Kapitals zur Natur bestenfalls für einen „Nebenwiderspruch“, der vom „Grundwiderspruch“ zwischen Lohnarbeit und Kapital ablenkte. Man wollte ja am Typus der Industrialisierung gar nichts ändern, sondern diese lediglich einer neuen Kommandostruktur unterstellen. Die Natur galt auch den Sozialisten/Kommunisten als etwas, das umsonst da war und unbegrenzt Rohstoffe lieferte für menschliche Aneignungsprozesse.

Der Abschied vom Proletariat und die Krise der Linken

Mit dem Niedergang des Fordismus und ganzer Industriezweige begann sich die Industriearbeiterschaft aufzulösen. Für die Linke bedeutete das, „Abschied vom Proletariat“ nehmen zu müssen, wie André Gorz 1980 eines seiner Bücher betitelte. Der Linken kam ihr designiertes revolutionäres Subjekt abhanden, dessen Position seither vakant ist. Wenig später machte der Untergang der sozialistischen Staaten die Linke vollends heimat- und orientierungslos. (…) Trotz Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und Wohnungsnot hat die verbliebene sozialistische Linke bis heute keine adäquate Antwort auf die sozialen Fragen und ökologischen Herausforderungen der Gegenwart gefunden. Sie kann deswegen von der unübersehbaren Krise der hegemonialen neoliberalen Formation und den Auflösungsprozessen der großen Parteien nicht profitieren. Die Linke tut sich schwer, die zahlreichen Bruchlinien der sozialen Integration und die sich entlang dieser Bruchlinien bildenden neuen sozialen Bewegungen strategisch zu codieren und zu einem halbwegs einheitlichen Willensstrahl zu bündeln. (…) Die klassische linke Zentralperspektive, die alles aus dem Blickwinkel des Proletariats betrachtete und beurteilte, ist weggebrochen und auch nicht wiederherzustellen. Wir dürfen uns eine zukünftige Linke nicht mehr als parteiförmigen homogenen Block vorstellen, sondern eher als ein „Patchwork der Minderheiten“, wie ein Buch von Jean-Francois Lyotard betitelt ist, das Ende der 1970er Jahre im Berliner Merve-Verlag erschienen ist.

Ob es der von Sahra Wagenknecht initiierten Bewegung Aufstehen gelingt, die zerstreuten Widerstandspotenziale aufzugreifen und zu bündeln, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen. Sie verkörpert immerhin einen Hoffnungsschimmer am trüben linken Himmel. (…) Dabei hätte eine linke Sammlungsbewegung, wenn sie unter den heutigen Bedingungen Erfolg haben will, die Quadratur des Kreises hinzubekommen und die soziale Frage mit der ökologischen zu verknüpfen. Bislang verhielten sich beide nach dem Prinzip des Wetterhäuschens: Entweder „Frau Ökologie“ war draußen und „Herr Klassenkampf“ war drinnen, oder „Herr Klassenkampf“ war draußen und „Frau Ökologie“ war drinnen. Um beide zu vereinen, muss die Linke ihre bis heute mitgeschleppte Fixierung an ein produktivistisches Fortschrittsmodell überwinden und es wagen, die Revolution als Bruch mit einem Fortschrittsbegriff zu konzipieren, dessen ruinöser und destruktiver Charakter immer deutlicher zu Tage tritt. Es sind nicht nur die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die verändert werden müssen, es ist der Industrialismus, der uns gefangen hält. Die Produktivkräfte selbst sind zu Destruktivkräften geworden. 200 Jahre industrieller Kapitalismus und Sozialismus mit ihrem Raubbauverhältnis zur inneren und äußeren Natur haben ausgereicht, den Globus sturmreif zu schießen und die Welt an den Rand des Abgrunds zu bringen.

„Stück für Stück die Welt retten“

Aber nun zurück zur Frage nach den Ursachen des grünen Höhenflugs. Unlängst bekam ich eine Tafel Bio-Schokolade geschenkt. Auf deren Verpackung stand: „Stück für Stück die Welt retten.“ Schluss mit dem schlechten Gewissen wegen der zweifelhaften Herkunft der verwendeten Zutaten. Diese Schokolade stammt aus biologischem Anbau und wird fair gehandelt. (…) Das ins Politische gewendete Versprechen dieser Schokolade sind die Grünen. Sie transportieren das Versprechen eines grünen Kapitalismus, der Wachstum und Nachhaltigkeit miteinander versöhnt. Wir können die Welt retten, ohne die Eigentumsverhältnisse anzurühren. Der Kapitalismus soll lediglich von seinen krassesten Auswüchsen befreit werden und sich in ein Wirtschaftssystem verwandeln, das privates Profitstreben mit ökologischer Nachhaltigkeit versöhnt. Die Grünen und vor allem ihre Wähler verfahren nach dem alten Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!

Der Kapitalismus ist in seiner ungezügelten und rastlosen Jagd nach Profit im Begriff, einige der Äste abzusägen, auf denen er selber sitzt. Der drohende ökologische Kollaps würde nicht nur die menschlichen Lebensgrundlagen zerstören, sondern auch die Reproduktion des Kapitals gefährden. (…) Ich kannte mal einen Krebskranken, der redete mit „seinem Krebs“ und versuchte ihm klarzumachen, dass er in seinem Wachstum gewisse Grenzen nicht überschreiten dürfe, weil er andernfalls mit ihm stürbe. Das könne ja nicht in seinem Interesse liegen. Er hat nicht auf ihn gehört. Der Krebs meines Bekannten verhielt sich dieser Belehrung gegenüber genauso indolent, wie das Kapital bislang gegenüber jeder noch so gut gemeinten Wachstumskritik. Beide können offenbar nicht anders als ständig zu wachsen. Sie gehorchen in ihrem Wachstum einer amokartigen Logik und reißen in ihren Untergang alles mit. Das Motto lautet: Nach uns die Sintflut! Das nehmen inzwischen auch die klügeren Repräsentanten der herrschenden Klasse wahr und beginnen, sich nach neuen Bündnispartnern umzuschauen, die den fälligen ökologischen Wandel einleiten und durchsetzen können. (…) Gesucht werden politisch-gesellschaftliche Kräfte, die einer neuer Stufe der kapitalistischen Entwicklung zur Durchsetzung verhelfen, ohne die Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen. Die Grünen präsentieren sich als eine politische Kraft, die den Abschied von den fossilen Energieträgern und den Übergang zu erneuerbaren Energien und den fälligen Umbau der Gesellschaft zu organisieren vermag, ohne an deren Grundfesten zu rühren. Die Verheerungen, die der losgelassene Markt und das Kapitalprinzip angerichtet haben, sollen innerhalb der Logik des Kapitals und mit marktförmigen Mitteln behoben werden.

Grüne Modernisierungsgehilfen

An dieser Stelle verhält das Kapital sich listig und undogmatisch. Auch die kapitalistische Geschichte verläuft in dialektischen Sprüngen, und die Kräfte der Negation verkörpern oft, ohne es zu ahnen oder gar zu wissen, die nächst höhere Stufe der kapitalistischen Entwicklung und verhelfen dieser gegen zunächst massiven Widerstand zur Durchsetzung. Auf die Grünen bezogen könnte man es hegelianisch so ausdrücken: Der kapitalistische Profitgedanke bedient sich dieser einstigen Alternativbewegung, um einen drohenden Kollaps abzuwenden und eine fortgeschrittenere Stufe zu erklimmen. Die Grünen sollen bei der fälligen kapitalistischen Krebstherapie das Skalpell führen und den Arzt am Krankenbett geben. Damit dieser dialektische Trick gelingen kann, war und ist es wichtig, die „rote Linke“ und die „grüne Linke“ zu spalten und den grünen Teil ins neoliberale Lager hinüberzuziehen. Das ist in den letzten Jahren unter tätiger Mithilfe der Grünen selbst weitgehend gelungen. Sie sind zu einer im Kern bürgerlichen Partei geworden. (…)

Den Grünen wachsen gegenwärtig auch aus anderen Gründen neue Wählerinnen und Wähler zu. Viele Mittelschichtseltern haben in den letzten Jahren Kinder bekommen. Die Geburtenrate steigt auch in diesen Schichten seit Jahren an. Ein Kind ist ja nicht nur die Komplettierung eines bestimmten Lebensstils, sondern auch ein Kompliment an die Welt. Dieser wird zugetraut, dass sie dem Kind für rund 80 Jahre eine bewohnbare Heimstatt bietet. Die Eltern, die in letzter Zeit so kühn waren, ein Kind in die Welt zu setzen, müssen nun allabendlich aus den Nachrichten erfahren, in welchem Zustand sich diese befindet und dass die Zukunft des Planeten und so auch ihrer Kinder alles andere als rosig ist. In dieser Lage erscheinen vielen jungen Eltern die Grünen als letzte Rettung und Hoffnungsträger.

Eine neue hegemoniale Formation?

(…) Die Grünen antizipieren den Kapitalismus von morgen und haben den Wind einer mächtigen objektiven Tendenz im Rücken. (…) Der Zeitgeist ist grün. Rund um die Grünen könnte sich in der nächsten Zeit eine neue hegemoniale Formation herausbilden, die den Kapitalismus modernisiert und ihn vor sich selber schützt. In welcher parteiförmigen Konstellation das geschehen wird, wird sich noch zeigen. Die Grünen schrecken vor nichts zurück und sind allseits anschlussfähig. In Bayern hätten sie sich sogar mit der CSU eingelassen. (…) 

Wir leben in einem „Interregnum“: Eine bestimmte gesellschaftliche Formation geht aus den Fugen, ohne dass eine neue bereits Gestalt angenommen hat. In der Zwischenzeit ist alles in der Schwebe. Eine solche Situation bietet große Chancen, steckt aber auch voller Gefahren. Bei Antonio Gramsci heißt es: „Das Alte stirbt und das Neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster“. Sie stehen auch heute wieder in den Kulissen bereit und warten auf ihren Auftritt. Noch haben wir es in der Hand, ihn zu verhindern und ein anderes Stück aufzuführen. (…)

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