Mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert nahmen auch in der wieder-aktivierten deutschen Hauptstadt Debatten über eine nachhaltige Gestaltung der Gesellschaft zu. 1992 hatten 192 Staaten auf der UN-Umweltkonferenz in Rio die Agenda 21 beschlossen. 1996 wurde die von BUND und Misereor beim Wuppertal-Institut in Auftrag gegebene Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ veröffentlicht. 2000 beschloss die zwei Jahre zuvor ins Amt gelangte rot-grüne Bundesregierung das Erneuerbare Energien-Gesetz. Auch die Zukunft der Mobilität, namentlich in Großstädten wie Berlin, wurde diskutiert: Wie lässt sich die Lebensqualität der Einwohner durch Reduktion der Kfz-Zahlen und kombinierte Mobilität steigern? – An einem vom damaligen Berliner SPD-PDS-Senat unterstützten Projekt zur Einführung von Sammeltaxis war ich als stellvertretender Vorsitzender eines Berliner Taxiunternehmerverbands beteiligt. Der folgende Brief ist als Zeitdokument nach wie vor aktuell, ich gebe ihn daher in voller Länge wieder.
Hansjürgen Schulze, stellvertretender Vorsitzender der Berliner Taxivereinigung BTV
An die Innung des Berliner Taxigewerbes z.Hd. des Vorsitzenden W. Wruck
16. Februar 2003
Werter Kollege Wruck,
nach unsrer gemeinsamen Teilnahme am Tellus-Workshop am Dienstag in der Vorstandsetage der Berliner Mercedes-Benz-Niederlassung wende ich mich an Dich im Auftrag jener Tellus-Projektgruppe, über deren Existenz Dich Senator Strieder im Herbst persönlich informierte. Zunächst eine Richtigstellung: Bei dem Projekt, als dessen Träger die AG City-West in Zusammenarbeit mit dem ADAC Berlin-Brandenburg fungiert, handelt es sich NICHT um einen Dolmus-Taxenverkehr (also Sammeltaxen auf einer fest vorgegebenen Linie), sondern um eine spezielle Personenbeförderung innerhalb eines relativ kleinen Gebietes (grob umrissen: vom Bhf. Zoo zur Lietzenburger Straße, von der Urania zum Olivaer Platz). Innerhalb dieses Gebietes sind rund viertausend Gewerbetreibende aktiv. Ihr gemeinsames Interesse: durch attraktives Mobilitäts-Angebot die City-West zu revitalisieren und insbesondere jene Kunden, die im Gefolge der Veränderungen nach dem Mauerfall verloren gingen, zurück zu gewinnen. Dem Vorhaben, die Attraktivität des Kurfürstendamm-Umfelds zu steigern, wird sich das Berliner Taxiewerbe nicht verschließen; denn es konnte in den vergangenen Jahrzehnten erheblich von der Lebendigkeit und dem Reichtum des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in der West-Berliner City profitieren. Und umgekehrt!
Geplant ist, dass Großraumtaxen zu einem Fahrpreis von zwei Euro pro Person innerhalb dieses Gebietes (ohne jede Berechtigung, während ihres Einsatzes dieses Territorium zu verlassen) im Auftrag der Gewerbetreibenden unterwegs sind: Das Ka.De.We und weitere namhafte Unternehmen würden an imageprägende Kundenkreise entsprechende Fahrscheine ausgeben – beispielsweise für die Fahrt zum Schweizer Hof und weitere Hotels. Damit könnte es zu einem Konflikt mit jenem Teil des Berliner Taxigewerbes kommen, das sich von den Droschken des 18. Jahrhunderts nur unwesentlich unterscheidet und sich gezwungen sieht, immer längere Wartezeiten und damit Verluste in Kauf zu nehmen. Dieser Konflikt könnte, vor dem Hintergrund der desolaten Konjunktur, an Schärfe noch zunehmen, wenn die neuen Sammeltransporte im Rahmen einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 51 (2) PBefG als Taxen fungierten und die Berechtigung hätten, weitere Fahrgäste unterwegs aufzunehmen (wie gesagt, das Territorium darf dabei nicht verlassen werden). Speziell mit Blick auf die Stimmungslage unter Taxlern hielt ich lange Zeit ein solches Vorhaben für nicht durchsetzbar.
Frau Priess, die Geschäftsführerin der AG City-West, erklärte in unsrer Projektgruppe, angesichts der Wirtschaftsflaute sehe sich ihre Mitgliedschaft außer Stande, alleine die Rentabilität des Projektes zu garantieren. Ohne solche Garantie wird sich zumindest in der Startphase wohl kein Fuhrbetrieb bereit erklären, das Risiko zu übernehmen. Es sei denn, die Übernahme von Fahrgästen unterwegs ist im Rahmen der Ausnahmegenehmigung ausdrücklich gestattet. Dazu bedarf es jedoch, so ließ die Senatsverwaltung erkennen, der Zustimmung des Taxigewerbes. Das halte ich persönlich für korrekt. – Ich bekam als Mitglied der Projektgruppe und stellvertretender Vorsitzender eines der Berliner Taxiverbände den Auftrag, im Taxigewerbe für unser Ziel zu werben – was ich hiermit tue.
Werter Kollege Wruck, ich hatte auf dem Workshop den Eindruck, Du hättest die Sinnhaftigkeit neuer Formen der Personenbeförderung anerkannt, wie sie etwa im Kleinmachnower Tellus-Projekt zum Ausdruck kommt. Aber es bereite Dir Probleme, das Projekt gegenüber den Innungsmitgliedern – Fahrpreise weit unterhalb des Taxitarifs – durchzusetzen. Es ist an der Zeit, GEMEINSAM eine entsprechende Diskussion im Berliner Taxigewerbe zu führen.
Unser gemeinsames Grundanliegen ist, das Berliner Taxigewerbe aus einer der tiefsten Krisen seiner zweihundertjährigen Geschichte herauszuführen. Dazu bedarf es m.E. eines regelmäßigen Umsatzes von mindestens 20 Euro pro Stunde, d.h. einer Verdoppelung der gegenwärtigen Umsätze pro Taxi. Sollte, was ich persönlich erwarte und unterstütze, in Zukunft ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden (im DGB werden 7,50 €/h diskutiert), müsste das Taxigewerbe ohnehin neue Wege gehen, um einen allgemeinen Zusammenbruch seiner Existenzgrundlage zu vermeiden.
Nur eine Wunschvorstellung? – Ja, wenn ich das herkömmliche Mobilitätsverhalten der Verkehrsteilehmer in die Zukunft fortschreibe: Autobesitzer würden weiterhin ihr Vehikel nutzen und nur in Ausnahmefällen ins Taxi umsteigen. Die Mehrheit der Berliner würde weiterhin den herkömmlichen ÖPNV nutzen. Dann würde sich die Negativ-Spirale weiter drehen: Angesichts stagnierender oder sinkender Real-Einkommen ist das Taxi schlicht zu teuer, wegen sinkender Fahrgastzahlen müssten die Taxitarife weiter steigen, was wiederum den Kreis der Fahrgäste zusammenschmelzen ließe.
Aber in der Wirtschaftskrise liegt m.E. auch eine Chance für das Berliner Taxigewerbe. Der Schlüssel liegt in der Einstellung der Bevölkerung. Um die Zukunft zu erahnen, lohnt es, über die Landesgrenzen hinaus bei unseren Schweizer Nachbarn vorbei zu schauen, und sei es nur im Internet (Stichwort: „kombinierte Mobilität“). Herr Sandrock erwähnte auf dem Workshop positiv die Hauptstadt Bern. Dem möchte ich einen Hinweis auf Zürich hinzufügen. Kombinierte Mobilität bedeutet, dass für den Weg von A nach B mehrere Verkehrsmittel genutzt werden. So kann eine Fahrt mit dem Auto beginnen, ein Teil des Weges im öffentlichen Verkehrsmittel zurückgelegt und die letzte Meile mit einem (Miet-)Fahrrad oder einem Sammeltaxi vervollständigt werden.
Nur eine Schweizer Besonderheit? Siehe das Bestreben der Deutsche Bahn AG, die Attraktivität ihrer Angebote durch kombinierte Mobilität, unter Einbeziehung von Carsharing und Mietfahrrädern, zu steigern – wieder einmal hätte hier das traditionelle Taxigewerbe das Nachsehen.
Nicht von ungefähr ist ein ehemaliger Droschkenkutscher aus dem Umfeld unsrer Stadt zur Symbolfigur des Berliner Taxigewerbes aufgestiegen. Der „Eiserne Gustav“ aus Wannsee, der uns aus Falladas Roman oder Rühmanns Filmfigur vertraut ist, kämpfte durch seine Aufsehen erregende Pferdedroschkenfahrt 1928 nach Paris nicht nur gegen die nicht mehr aufzuhaltende Dominanz des Automobils an, sondern darüber hinaus gegen die ebenso rasanten wie tiefgreifenden Umbrüche seiner Zeit. Bei aller Liebenswürdigkeit steht Gustav Hartmann als Symbolfigur des Berliner Taxigewerbes für das Gestern, weniger für das Heute und schon gar nicht für die Zukunft.
Wenn wir unseren Wissenschaftlern glauben, dann befinden wir uns gegenwärtig in einer Periode ähnlich rasanter und tiefgreifender Umbrüche wie vor achtzig Jahren, angesichts derer der damalige Wandel von der Pferde- zur Kfz-Droschke als Bagatelle erscheint. In der Schweiz ist heute schon sichtbar, was auf uns zukommen wird: dass namentlich in den größeren Städten die PKW-Zahlen stagnieren oder zurückgehen. 1987 hat in Zürich und ein Jahr später in Berlin Carsharing als organisierte Form des gemeinsamen Autogebrauchs das Licht der Welt erblickt: Statt dass sich jede Person ein eigenes Auto kauft, um es weniger als eine Stunde am Tag zu nutzen, teilen sich viele Personen wenige Autos. Vorausgesetzt, das Reservierungssystem funktioniert (bald auch mittels Internet und Handy), ist es um ein Mehrfaches kostengünstiger als der Unterhalt des eigenen PKW. Bei sehr gut entwickeltem ÖPNV verdoppelt sich der Einsatz von Carsharing in der Schweiz alle zwei Jahre. Noch dominiert auch dort der traditionelle Autoverkehr. Doch neun Prozent der gesamten Schweizer Bevölkerung können sich heute schon den Umstieg auf kombinierte Mobilität unter Einschluss von Sammeltaxis vorstellen. Welche Chancen böte dies auch für ein Berliner Sammeltaxisystem!
Diesen Zusammenhang hatte ich vor Augen, als ich auf dem Workshop die Möglichkeit erwähnte, ein Berlinbesucher könne seinen PKW am Stadtrand parken (park-and-ride), mit der S-Bahn in die City fahren und unter Nutzung eines Kombitickets für nur zwei Euro zusätzlich das bereitstehende Sammeltaxi für den Feintransport zur Haustür nutzen und dabei zumindest die mühsame Parkplatzsuche mitsamt Parkgebühren einsparen – in Zukunft wahrscheinlich auch die happige PKW-Citymaut, wie sie für London und andere europäische Metropolen längst schon existiert.
Zehn Fahrgäste pro Einsatzstunde erbringen zwanzig Euro Umsatz. Es ist an der Zeit, eine solche Diskussion innerhalb des Berliner Taxigewerbes zu führen und die beiden Tellus-Pilotprojekte als Schritte in die richtige Richtung zu akzeptieren. Daher frage ich Dich an dieser Stelle, ob Seitens der Innung des Berliner Taxigewerbes die Bereitschaft vorhanden ist, den Antrag an den Verkehrssenator zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 51 (2) PBefG zumindest zu tolerieren.
Deiner positiven Antwort sehen alle Akteure des genannten Projekts (allen voran: die AG City-West und der ADAC) mit großem Interesse entgegen.
Freundliche Grüße: Hansjürgen Schulze