Zum Vermächtnis der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933

Vier von 10 Mitgliedern unseres Vereins sind auch im Eutiner Friedenskreis aktiv. Dort hielt ich am 10. Mai den unten stehenden Vortrag. Mir ging es besonders darum, den Begriff der Nation als Gegenbegriff zum Nationalismus positiv zu besetzen: Wer die eigene Nation missachtet, kann kein wahrer Internationalist sein! Viele Friedensaktivist*innen und Klimaschützer*innen wollen, dass die Bundesregierung kraftvoll und frei von äußerem Druck für das gemeinsame Haus aller Völker unseres Planeten streitet: Nur so kann die Menschheit die selbstgemachte Klimaerhitzung  noch einigermaßen begrenzen! Im vertrauensvollen Miteinander der Völker, welche die Lektion aus all den vielen Kriegen gelernt haben, sehen wir das Vermächtnis der vielen Autor*innen, deren Bücher am 10. Mai 1933 in Berlin und danach in vielen weiteren deutschen Städten von einer johlenden Menge verbrannt wurden.

„August 2022. Ich stehe erneut auf der Mitte des Bebelplatzes neben der Staatsoper Unter den Linden und gegenüber der Humboldt-Universität. Der Anblick der in den Boden eingelassenen Glasscheibe ist mir seit vielen Jahren vertraut: Ich sehe hinunter in eine Kammer mit vielen leeren Bücherregalen. Dieses Denkmal erinnert an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933. Ich sehe die leeren Regale und empfinde – nichts. Denkmale sollen provozieren, Streit erzeugen, zum Denken anregen („denk mal darüber nach“). Doch davon war nichts zu spüren an jenem Augusttag 2022.

10. Mai 2005. Um die Glasscheibe haben sich, von der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus organisiert, Dutzende Menschen versammelt, darunter Eberhard Esche und weitere Brecht-Schüler*innen vom Berliner Ensemble. Jede und jeder von uns Anwesenden hatte ein Buch in der Hand, aus dem er oder sie kurze Texte zitierte. So zum Beispiel Erich Kästner aus dem Jahr 1930:

„Am zwölften Juli des Jahres 2003 lief folgender Funkspruch rund um die Erde: daß ein Bombengeschwader der Luftpolizei die gesamte Menschheit ausrotten werde. Die Weltregierung, so wurde erklärt, stelle fest, daß der Plan, endgültig Frieden zu stiften, sich gar nicht anders verwirklichen läßt, als alle Beteiligten zu vergiften.“ Danach ein Brechtzitat aus dem „Gedächtnis der Menschheit“: „Wenn wir den Kriegstreibern nicht die Hände zerschlagen werden.“ Erinnert wurde an den Lübecker Dramatiker, Pazifisten und Anarchisten Erich Mühsam: „Und ob sie mich erschlügen. Sich fügen heißt lügen“. Auch an Gertrud Kolmar wurde erinnert – eine der größten deutschen Lyrikerinnen, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde und heute kaum bekannt ist. Der russische Kriegsveteran Wladimir Gall ließ mich aus seinem deutschsprachigen Heine-Band vortragen. Mit ihm im Tornister war er durch den gesamten Krieg gezogen und hatte stets seine Vorstellung von einem „besseren, anderen Deutschland“ gegen den in der Roten Armee verbreiteten Deutschenhass verteidigt. Während das „Volk der Dichter und Denker“ in der Sowjetunion seinen Namen aufs Barbarischste besudelte, hielt mein Freund Wolodja unerschütterlich an seinem Glauben an eine positive Zukunft des deutschen Volkes im gleichberechtigten Miteinander aller Völker fest. Mir zitterten die Hände, als ich eine von ihm oft gelesene Passage aus „Deutschland, ein Wintermärchen“ vortrug. Es war ein stürmischer Maitag. Der Infostandschirm mit der Aufschrift „PDS“ fiel mir während meiner Rede auf den Rücken. Spontan sagte ich: „Wenn man sich nicht gegenlehnt, dann fällt sie um, die PDS!“ – Und jetzt, 2022, während des Ukraine-Kriegs: Leere. Nur noch gähnende Leere. Auch in den heutigen NachDenkSeiten: Bloßes Erinnern an den 10. Mai 1933, ohne Bezugnahme auf den heutigen Nationalismus und Putinhass – das ist zu wenig!

Denkmale sollen das „Denk mal“ provozieren. Hitlers Nationalismus stützte sich auf „das Soziale“. Politiker wie Höcke ziehen, Hitler kopierend, Linken-Wähler zur AfD: Am 2.11.1941 stellte Hitler in seiner Plauderei im Führerhauptquartier fest: „Das Entscheidende ist die soziale Frage!“ Sie gelte ausschließlich für das eigene Volk. Ohne sie müsse jedes staatliche Fundament zusammenbrechen.

Darum sei im Zusammenhang mit der Bücherverbrennung Heine zitiert. Seine vor exakt 200 Jahren veröffentlichte Tragödie „Almansor“ spielt um das Jahr 1500 im damaligen Emirat Granada: El Almansur ist arabisch und heißt „der Siegreiche“. Der Erzbischof und Großinquisitor von Toledo ließ nach Granadas Eroberung 5000 maurische Bücher verbrennen und die von den Muslimen tolerierten Juden gewaltsam vertreiben. Scheiterhaufen brannten. Heine kommentierte dies mit den Worten: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Dabei war Heine, der stets den Gegenwartsbezug seiner Schriften suchte, die Schandtat einer deutschen Burschenschaft auf dem Wartburgfest von 1817 bekannt: deutschtümelnde Studenten verbrannten alle Bücher, die einen französischen oder jüdischen Bezug hatten. So hatten sich die Rothschilds und andere jüdische Bankiers an der Ausbeutung des deutschen Volkes während Napoleons Herrschaft beteiligt und verhasst gemacht. Doch erst mit dem Aufkommen des Sozialdarwinismus Ende des 19. Jahrhunderts mutierte das Judentum im herrschenden Denken zum nationalen Fremdkörper, der zu liquidieren sei.

Friedrich Engels hatte sich 1841mit Ernst Moritz Arndt und dem Übergang zur Deutschtümelei auseinandergesetzt: In den antinapoleonischen Befreiungskriegen „wird uns die ruhmvolle Zeit, wo die deutsche Nation seit Jahrhunderten wieder zum ersten Male sich erhebt …, auf lebendige Weise nahegebracht. … Nicht die Abschüttelung der Fremdherrschaft … war das größte Resultat des Kampfes, sondern dies lag in der Tat selbst …, dass wir uns bewaffneten, ohne die allergnädigste Erlaubnis der Fürsten abzuwarten, ja die Machthaber zwangen, an unsere Spitze zu treten, kurz, daß wir einen Augenblick als Quelle der Staatsmacht, als souveränes Volk auftraten, das war der höchste Gewinn jener Jahre. … Aber wie bald schlummerte die bewegende Kraft wieder ein! Der Fluch der Zersplitterung absorbierte den dem Ganzen so nötigen Schwung für die Teile, zerspaltete das allgemeine Deutsche in eine Menge provinzieller Interessen … Dann kamen die Kongresse und gaben den Deutschen Zeit, ihren Freiheitsrausch auszuschlafen und sich, erwachend, in dem alten Verhältnis von Allerhöchst und Alleruntertänigst wiederzufinden. … Die Deutschtümler wollten … das materiell unabhängig gewordene Deutschland auch von der geistigen Hegemonie des Fremden befreien. … Ihre ganze Weltanschauung war philosophisch bodenlos, weil nach ihr die ganze Welt um der Deutschen willen geschaffen war… Das Extrem dieser Richtung bildete Jahn. Diese Einseitigkeit machte denn die Deutschen zum auserwählten Volk Israel und mißkannte alle die zahllosen weltgeschichtlichen Keime, die außerdeutschem Boden entsproßt waren. Namentlich gegen die Franzosen …, deren Hegemonie in Äußerlichkeiten darin ihren Grund hat, daß sie die Form der europäischen Bildung, die Zivilisation, jedenfalls von allen Völkern am leichtesten beherrschte, gegen die Franzosen wandte sich der bilderstürmende Grimm am meisten.“

Der nationalistische Franzosenhass wurde durch den ähnlich nationalistischen Russenhass ersetzt. Ich möchte aus einem Vortrag des Philosophen Peter Ruben zitieren, den er 1991 anlässlich der deutschen Einheit und des Vier-plus-zwei-Vertrags über das Thema „Nation und Nationalismus“ hielt:

Ruben nennt die Nation einen „Verein zur wechselseitigen Unterstützung ihrer Angehörigen“: Die Nation als „bestimmte Gemeinschaft“ setze „die Gesellschaft“ voraus und habe „einen entwickelten internationalen Verkehr zur Bedingung … Die Bildung der Nation ist … die notwendige Bedingung der industriellen Revolution… Die Proklamation des Freihandels oder die Apologie des Marktes tritt erst auf, wenn die Überlegenheit der nationalen Produktivkräfte gesichert ist“. „Die universelle ökologische Krise … hat … die Gemeinschaft der Nationen durch wirkliche Handlungen in Aktion versetzt. Ob wir noch eine Chance des Überlebens haben, steht dahin. Aber daß wir sie nur in der Gemeinschaft der Nationen haben, ist gewiß“.

„Das ist das eigentliche Problem der Nation, daß sie in der feindlichen Stellung gegen das Ausland, im Kriege gegen andere Nationen schließlich das Auskunftmittel zur Lösung ihrer ökonomischen wie sozialen Probleme bereit sein kann. Erfahrungen dieser Art haben die Geschichte der europäischen Nationen von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgemacht – und bilden gegenwärtig wieder im barbarischen Schlagen um das jugoslawische Erbe einen entsetzlichen Inhalt für die politische Wahrnehmung. (Einschub von mir: Das gilt auch für den Ukrainekrieg!) So ist es verständlich, wenn die Nation als Gemeinschaftsform unter Verdacht gestellt wird, jede nationale Regung mit Etiketten wie „Nationalismus“, „Chauvinismus“ etc. rechnen kann. Allein, Kennzeichnungen und Verdächtigungen dieser Art sind oft genug selbst nationalistischer Provenienz. Und wenn sie mit tatsächlich internationalistischer Intention vorgetragen werden, muß daran erinnert werden, daß der Internationalismus eben darum möglich ist, weil er die Natur des Verkehrs zwischen Nationen determinieren will. … In der Nation bildet das Individuum seinen Geist, seinen Verstand und seine Vernunft, seinen kulturellen Habitus aus, wird es zum Staatsbürger und also zur Person, die den politischen Verkehr erlernt.

Völker werden Nationen, indem ihre Individuen Staatsbürger werden, indem der Citoyen auftritt, der die Verfassung zur ideellen Bedingung seines politischen Verhaltens macht. Und eine Verfassung, die nicht die politische Gleichheit der in ihr definierten Staatsbürger deklariert, bedeutet nur die Karikatur der Idee nationaler Konstitution. In diesem Sinne ist die Bildung einer Nation stets die ideelle Antizipation einer stände- und klassenfreien Gemeinschaft. Und eben darin besteht die Attraktivität und Macht der Idee der Nation.“