Die Krise der deutschen Autoindustrie als Chance nutzen

Angesichts des Diesel-Skandals deutscher Autobauer und des verantwortungslos laxen Umgangs der Bundesregierung, besonders des Verkehrsministers Dobrindt (CSU) mehreren sich mahnende Stimmen, die tiefe Krise der deutschen Automobilindustrie als Chance zu sehen.  Unten stehender Beitrag des Wirtschaftsgeographen Felix C. Müller vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, den wir dem heutigen Tagesspiegel entnahmen, verdeutlicht im letzten Abschnitt, dass eine isolierte Betrachtung des Komplexes nicht ausreicht: Es mangelt an Infrastruktur, vornehmlich an Stromtankstellen, und weil der Auspuff von Elektroautos aus Kohlekraftwerken besteht,  muss E-Mobilität schleunigst mit dem Ausstieg aus der Kohle und dem Umstieg auf Erneuerbare Energien verbunden werden. Außerdem ist die Elektromobilisierung in innovative Verkehrskonzepte einzubinden – wenn statt 45 Millionen benzin- und dieselgetriebenen Fahrzeugen 45 Millionen E-Autos die Straßen verstopfen, wird sich wenig an der mangelnden Zukunftsfähigkeit der heutigen Verkehrssysteme ändern.

„Die Krise der Automobilindustrie ist eine Chance!

Der Erfolg der deutschen Automobilindustrie hat viele Fehlentwicklungen begünstigt. Die aktuelle Krise bietet die Chance, nicht nur in der Verkehrs- sondern auch in der Innovationspolitik eine Wende herbeizuführen, um die deutsche Wirtschaft zukunftsfähig zu machen.

Der seit langem schwelende VW-Skandal und die jüngst aufgedeckten Absprachen zwischen deutschen Automobilkonzernen werden mit Schrecken und Sorge zur Kenntnis genommen. Ist der Automobilstandort Deutschland in Gefahr? Parallel breitet sich eine neue Lust an nationaler Industriepolitik aus, stimuliert sowohl vom Wirtschaftsnationalismus des Trump-Typs als auch von der Elektro-Supermacht China, die seit langem einen technologischen Vorherrschafts-Plan verfolgt. Rufe nach einem Verbot von Verbrennungsmotoren nach britischem und französischem Vorbild werden laut. Die deutsche Autoindustrie habe einen wichtigen Trend verschlafen, heißt es. Wie also lässt sich die deutsche Auto-Krise einordnen und was ist zu tun? In erster Linie sollte sie als Gelegenheit für einen technologie- und industriepolitischen Wandel genutzt werden, bei dem das Thema Elektromobilität eine zentrale Rolle einnimmt.

Der Erfolg der deutschen Automobilindustrie hat zu vielen Fehlentwicklungen geführt

Zunächst ist die aktuelle Krise der deutschen Autokonzerne eine Chance. Der fast schon unheimliche Erfolg der „Deutschland-AG“ in den vergangenen Jahren hat viele Fehlentwicklungen begünstigt. In Europa fühlte sich Deutschland bisher wirtschaftspolitisch unangreifbar. Die Autokonzerne standen stellvertretend für die Überlegenheit des deutschen Exportmodells, dessen erdrückende, mit Symbolen aufgeladene Macht es den Deutschen unmöglich machte, sich beispielsweise in der Eurokrise kritisch selbst zu hinterfragen. Die Autokonzerne standen nicht nur für einen Mobilitätsbegriff, den viele (auch ich) für überkommen halten, sondern auch für die Wahrnehmung, dass Krisen und sklerotische Strukturen in der Kungelzone von Politik und Wirtschaft grundsätzlich das Problem anderer Leute und Länder sind. Dass dies eine Illusion war, musste jedem aufmerksamen Beobachter klar sein, doch die Illusion war übermächtig. Etwas Demut tut uns gut. Wir haben jetzt die Chance uns neu zu finden.

Zwischen Politik und Industrie herrscht zu viel Nähe

Umweltministerin Barbara Hendricks bemerkte zu Recht, dass zwischen Politik und Autoindustrie lange zu viel Nähe herrschte. Spätestens seit dem Bekanntwerden von Abgaswertmanipulationen und den darauf folgenden extrem spärlichen politischen Reaktionen, vor allem seitens des Verkehrsministers, ist diese Feststellung ein Allgemeinplatz. Weniger bekannt ist, dass auch die Innovationspolitik, deren Aufgabe es ist neue, fortschrittliche Lösungen zu fördern, selbst in dieser Hinsicht problematisch ist. Bund und Länder betreiben umfassende technologiepolitische Förderprogramme. Fast alle stellen darauf ab, dass Unternehmen in Kooperation miteinander oder gemeinsam mit Forschungseinrichtungen neue Lösungen entwickeln. So lange es dabei um schrittweise Verbesserungen vorhandener Systeme geht, funktioniert ein kooperationsbasierter Ansatz gut. Die Innovations- und Technologiepolitik ignoriert jedoch weitgehend, dass fundamentalere Neuerungen immer konfliktreich sind, zum Aufbrechen vorhandener Kooperationsbeziehungen führen und von den industriellen Platzhirschen meist nach Kräften abgewehrt werden. Die Innovationspolitik sollte sich von ihrer einseitigen Fixierung auf Kooperation verabschieden und mehr disruptive Instrumente einführen, die sich stärker auf die Förderung neuer Geschäftsmodelle konzentrieren. Mit Konsensorientierung und einer strikten Abwehr aller Zumutungen tut die Politik der Wirtschaft langfristig keinen Gefallen.

In Deutschland wird zu wenig für die Schaffung neuer Märkte getan
China setzt derzeit auf eine Kombination von wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Im Bereich der Elektromobilität versucht die Regierung, Know-How aus dem Ausland abzuschöpfen, aber auch eigene Technologieentwicklungen voranzutreiben. Vor allem aber macht sie das Land zum globalen Leitmarkt für Elektromobilität. In Deutschland gab es vergleichbare Ansätze, jedoch nur überaus zaghaft. Große Innovationsschübe, wie beispielsweise die Entstehung der Biotechnologie in den USA in den 1980ern, gehen immer auch mit einer aktiven Nachfragepolitik einher. In Deutschland dient Technologiepolitik jedoch überwiegend der Exportförderung, wobei es um Technologieführerschaft auf bereits vorhandenen Märkten geht statt um die Schaffung von neuen. Um eine erfolgreiche Leitmarktpolitik zu machen – aktuell besonders dringend beim Thema Mobilität – bedarf es einer umfassenden Anstrengung, die Nutzer, Regulationsbehörden, Parlamente, den Kapitalmarkt und Infrastrukturanbieter einbezieht. Elektroautokäufe zu subventionieren reicht nicht. Die Finanzmarktpolitik ist von besonderer Bedeutung. Seit dem Ende des „Neuen Marktes“ hat sich die Politik nicht mehr an ein wirklich innovationsorientiertes Kapitalmarktsegment herangewagt. Die deutschen Haushalts- und Exportüberschüsse bieten eine einmalige Chance dazu.
Dabei hilft es nicht, andere Länder zu imitieren.
Die vorhandenen Strukturen – die Industrie, die Verkehrs- und Siedlungsstrukturen, die Zulieferbeziehungen, die rechtlichen Regelungen und das Nutzerverhalten – all diese Dinge sind landes- und teils regionstypisch. Auch die politischen Konfliktlinien sind spezifisch. In Deutschland geht es beispielsweise um die für Arbeitsplätze höchst bedeutsamen mittelständischen Automobil-Zulieferbetriebe, die nun um ihre Existenz fürchten. Auch der öffentliche Nahverkehr ist als Akteur in Deutschland besonders bedeutsam. Die Politik steht vor der schwierigen Aufgabe, vorhandene Strukturen aufzubrechen, Konflikte durchzustehen und schließlich zu einem neuen Konsens zu kommen – eine riesige Investition. Die bisherige Dynamik der Energiewende, von der großen Koalition wie auch von Schwarz-Gelb eher stiefmütterlich behandelt, kann einen Ansatzpunkt liefern. Der Umstieg von fossiler auf Elektromobilität bedeutet mehr als einen Ersatz von Verbrennungs- durch Elektromotoren. Er bedeutet auch, dass die Grenzen von Energie- und Mobilitätspolitik neu zu ziehen sind. Zahlreiche kleine Projekte erproben neue Lösungen wie beispielsweise die Nutzung stehender Elektroautos als Energiezwischenspeicher. Auch andere Energieträger wie Erdgas und Biogas lassen sich auf verschiedene Weisen mit Stromerzeugung und -Distribution koppeln. Letztlich geht es also gar nicht darum, eine fixe Idee von Elektromobilität durchzusetzen, sondern darum, ein für Deutschland passendes neues Energie- und Mobilitätsparadigma zu finden. Was jetzt benötigt wird, ist eine umfassende Förderung neuer experimenteller Modelle und eine Strategie für Infrastrukturpolitik und Regulierung.
Wir brauchen eine EU-Industriepolitik, die Elektromobil-Technologien fördert 
Besonders von China wird die Ordnungspolitik in Deutschland und der EU in letzter Zeit herausgefordert. Wir sind daran gewöhnt, dass der Staat sich nicht allzu sehr in privatwirtschaftliche Entscheidungen einmischen sollte. Doch die aggressive Aneignung von technologischem Wissen durch chinesische Investoren, die im Staatsauftrag europäische Firmen übernehmen, zeigt die Grenzen dieser Haltung, die in einer ordoliberalen Wirtschaftsphilosophie (ihr populärster Anhänger ist Wolfgang Schäuble) verwurzelt ist. Anhänger des Freihandels argumentieren, dass Wohlstand am besten durch globale Arbeitsteilung gefördert wird. Doch im Fall von Elektromobilität geht es um einen globalen Paradigmenwechsel. Wer die Standards setzt und Schlüsseltechnologien beherrscht, zieht langfristig wirtschaftliche Vorteile daraus. Deshalb sollte die Politik alle Teil-Technologien, die Elektromobilität ausmachen im Blick behalten, auch wenn sie „anderswo billiger produziert werden können“. Solch eine Aufgabe könnte von einer europäischen Industriepolitik bewältigt werden. Europäisch, weil wichtige Kompetenzen wie Wettbewerbspolitik ohnehin auf EU-Ebene angesiedelt sind, und weil auch in anderen strategisch wichtigen Bereichen wie der Rüstungsindustrie zunehmend eine gemeinsame europäische Linie entwickelt wird. Dabei ist es wichtig, strenge Wettbewerbsregeln beizubehalten, denn das Wettbewerbsrecht ist eines der wenigen scharfen Schwerter gegen Verkrustung und Monopolbildung.
Elektromobilität per se hat wenig mit Nachhaltigkeit zu tun
In der Debatte um Elektromobilität wird automatisch davon ausgegangen, dass Elektromobilität umweltfreundlich ist. Das stimmt so nicht. Die Abgas- und Lärmfreiheit am Ort der Nutzung steht einer Verlagerung von Verschmutzung und Belastung in Raum und Zeit gegenüber. „Verlagerung in der Zeit“ bedeutet, dass wir in Zukunft massive Probleme bei der Entsorgung und dem Recycling von Elektromobilitäts-Komponenten werden lösen müssen. Bereits heute beklagen Feuerwehren, dass brennende Elektroautos nur äußerst schwer zu löschen sind, weil konventionelle Löschmittel gegen die Temperatur einer brennenden Batterie machtlos sind und weil Einsatzkräfte durch unter Spannung stehende Karosserieteile gefährdet werden können. Auch Sicherheitsprobleme werden wir also in Zukunft angehen müssen.
„Verlagerung im Raum“ bedeutet, dass die Verschmutzung lediglich an die Orte verlagert wird, an welchen die Energie für Elektromobilität produziert wird, an welchen die zahlreichen benötigten Rohstoffe gewonnen und an welchen der Müll entsorgt wird. Elektromobilität per se hat damit wenig mit Nachhaltigkeit zu tun. Es besteht die Möglichkeit, dass Elektromobilität globale Ungleichheit und Umweltzerstörung einfach fortschreibt oder sogar verschlimmert. Die Verbreitung von Elektromobilität bietet aber ein Gelegenheitsfenster für politische Initiativen für mehr Nachhaltigkeit unGerechtigkeit. Auch das könnte Thema für eine europäische Industriepolitik sein.“
Hier der Originalbeitrag: https://causa.tagesspiegel.de/politik/diesel-und-moderne-verkehrspolitik-geht-das-zusammen/die-krise-der-automobilindustrie-ist-eine-chance.html